10. September 2025
von Manfred Loimeier
0 Kommentare

Abdulrazak Gurnahs Roman „Diebstahl“

„Diebstahl“ lautet der Titel des neuen Romans von Abdulrazak Gurnah, seines ersten Romans nach Erhalt des Literaturnobelpreises 2021. Und dieses Buch bereitet eine merkwürdige Lektüre, denn obwohl es sich über die ersten immerhin 250 von rund 330 Seiten liest wie die Zusammenfassung bisheriger TV-Folgen vor Beginn einer neuen Staffel, wirkt das Thema des Romans letztlich doch deutlich nach („Diebstahl“. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin Verlag, München 2025, 332 Seiten, 26 Euro).

Im Mittelpunkt der Handlung steht Badar, ein Junge, der als Haushaltshilfe in Obhut der Familie Othman gegeben wird. Sein Alltag in Daressalam vermittelt eine Ahnung vom früheren muslimischen Leben an der tansanischen Küste sowie auf den Sansibar-Inseln Pemba und Unguja. Sehr, wirklich sehr detailreich schildert Gurnah, wie Badar putzt und wäscht und kocht und seine gutaussehende Herrin Raya bewundert.

Anspielungen auf das eigene Werk

Das erinnert an Gurnahs „Das verlorene Paradies“ und auch an seinen noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman „The Last Gift“, denn auch dort verbreitet ein mürrischer Herr Othman schlechte Laune, leidet ein älterer Herr namens Abbas an diabetesbedingten Gesundheitsproblemen, kümmert sich ein großer Bruder um die Ausbildung seines jüngeren Geschwisters. Das Motiv des Diebstahls ruft die Geschichte aus „Donnernde Stille“ in Erinnerung, die explizite Nennung der sansibarischen Prinzessin Salme und ihres deutschen Ehemanns Ruete wiederum den Roman „Die Abtrünnigen“. Gurnah erwähnt Tolstoi und Jane Austen, und während die Handlung so weiterschlendert, greifen Karim, der Sohn von Badars Herrin Raya, und dessen Freundin und spätere Ehefrau Fauzia ins Geschehen ein.

Karim erfährt das Rätsel um Badars Herkunft – er ist der Sohn von Othmans Cousin und früherem Handelspartner, welcher Othman um ein beträchtliches Vermögen betrog. Nach dessen Verschwinden muss ausgerechnet Othman sich um den verlassenen Jungen kümmern. Karim aber verschafft Badar eine Stelle in einem Hotel auf Sansibar, lernt just dort die hübsche Entwicklungshelferin Geraldine aus London kennen und beginnt eine Affäre mit ihr, weswegen Fauzia ihn mit ihrer gemeinsamen Tochter Nasra verlässt. Karim macht Karriere in der Politik, und zuletzt werden Fauzia und Badar mitsamt Nasra glücklich miteinander.

Was eigentlich ist alles Diebstahl?

Gurnah erzählt das flüssig wie eine Kaffeehausplauderei und lässt seine Geschichte in ein tatsächlich fesselndes Finale münden. Und damit beginnen die Überlegungen, denn was genau ist alles Diebstahl? Dass Badars Vater seinem Sohn die Kindheit und Jugend verdarb? Dass Karims Mutter Raya lange nichts von ihrem Sohn wissen wollte? Dass die Entwicklungshelferin Geraldine Fauzia den Mann und deren Tochter Nasra den Vater nimmt? Dass die Touristen auf Sansibar den Einheimischen den Wohnraum verteuern? Und überhaupt: Wie lange verknüpft eine kausale Kette seit dem ursprünglichen Diebstahl das Leben wie vieler Menschen?

Und so geht es einmal mehr um Vergangenheit, die nicht vorüber ist, sondern sich gegenwärtig in das Leben von Individuen mischt und damit signalisiert, in welchen Bahnen sich das eigene Handeln bewegt und womöglich noch lange vollziehen wird.

Postkoloniale Komponente

Das Ganze wäre noch wirkungsvoller, hätte Gurnah die Charaktere seiner Figuren tiefer ausgelotet. So aber ist Othman nur schlecht gelaunt, Raya ungemein schön, Fauzia als Lehrerin nahezu genug beschrieben, Karim ehrgeizig, Fauzias Freundin Hawa in ihrer Nebenrolle lebenslustig, Geradline atemberaubend hübsch, und Badar, der nie so recht als Akteur erkennbar wird, ist so geduldig, fürsorglich, freundlich und für Nasra ein geliebter Ersatzvater, dass es kaum zu fassen ist.

Ferner ist da noch eine postkoloniale Komponente, denn nicht nur bringt Geraldine das Leben vor Ort durcheinander, sondern Fauzia liest zudem Bücher über die spanischen Konquistadoren in Südamerika und ihr Gemetzel an den Inkas. Aber so ist das nun mal in einer seit jeher globalen Welt, dass gegenseitige Einflüsse das Leben verändern. Und wie merkwürdig: Obwohl in Gurnahs Buch derlei Gedanken nur angedeutet sind, hallt dieses Schicksalsbewusstsein als Atmosphäre des Romans „Diebstahl“ noch weit über die Lektüre hinaus nach – und zwar sehr eindringlich.

 

Siehe auch:

Abdulrazak Gurnah und sein Roman „Nachleben“

Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah über Deutschlands Bedeutung in Tansania

Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah schildert die Schrecken der Sansibar-Revolution