08. November 2022
von Manfred Loimeier
0 Kommentare

Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah über Deutschlands Bedeutung in Tansania

Nicht nur im jüngsten Roman „Nachleben“ des Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah aus Sansibar spielt die deutsche Kolonialvergangenheit eine besondere Rolle. Gleiches gilt für Gurnahs Buch „Das verlorene Paradies“, zu dem „Nachleben“ gleichsam die Fortsetzung darstellt. Aber nicht nur Deutschlands Kolonialvergangenheit thematisiert Gurnah in seinem Werk, sondern auch die deutsche Teilung, so im Roman „Ferne Gestade“ (https://www.manfred-loimeier.de/wp-admin/post.php?post=756&action=edit). Den Bezug seiner Literatur zu Deutschland erläutert Gurnah im Gespräch.

Herr Gurnah, im Roman „Das verlorene Paradies“ von 1994 zitieren Sie aus Berichten europäischer wie afrikanischer Reisender, darunter Theodor Bumiller und Silimu bin Abakari. Sie haben deren Berichte aber nicht nur in „Das verlorene Paradies“ (https://www.manfred-loimeier.de/wp-admin/post.php?post=737&action=edit) eingearbeitet, sondern auch in Ihren jüngsten, soeben auf Deutsch erschienenen Roman „Nachleben“ von 2020 (https://www.manfred-loimeier.de/wp-admin/post.php?post=779&action=edit) Warum diese lange Zwischenzeit?
Gurnah: Ich hatte gar nicht vor, eine Art Fortsetzung zu schreiben, denn im Roman „Das verlorene Paradies“ ging es mir um die Begegnung, nicht um das Nachspiel. Aber mir war immer schon klar, dass ich über diese historische Phase, den Ersten Weltkrieg in Ostafrika, schreiben würde. Doch nach „Das verlorene Paradies“ interessierten mich zunächst andere Themen. Vielleicht wusste ich auch selbst zu wenig darüber, was seinerzeit vor sich ging. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr stieg mein Interesse – nicht am Krieg, ich wollte keinen Kriegsroman schreiben –, sondern daran, wie die Menschen damals lebten. Im Jahr 2018 war es dann so weit, dass ich dachte, ich wüsste nun genug, um darüber schreiben zu können. Und es ging mir nicht um eine Fortsetzung, sondern darum, nachzuspüren, wie es jemandem ergeht, der verwundet und traumatisiert wurde und an den Ort zurückkehrt, wo er vor dem Krieg lebte. Jemand, der die Bruchstücke seiner Biografie zusammensetzt und versucht, ein Leben zu führen. Etwas, was vielen jungen Menschen widerfuhr, die unklugerweise Teil der Armee, der deutschen Kolonialarmee, wurden. Es ist also keine Fortsetzung, sondern ein eigener Roman – mit Berührungspunkten.

Sie zitieren die Lyrik Friedrich Schillers und Heinrich Heines – wie vertraut sind Sie mit der deutschsprachigen Literatur?
Gurnah: Nur in dem Sinne, was mir eher zufällig unterkommt. Aber es gibt natürlich Autoren, die internationale Autoren sind – man muss nicht mit deutscher Literatur vertraut sein, um immer wieder auf Schiller, Heine oder Goethe zu stoßen. Schiller aber begegnete mir als junger Mensch kurz nach der Revolution auf Sansibar 1964. Die neue Regierung orientierte sich am Sowjetblock, und verschiedene Länder boten Unterstützung an, darunter die DDR. Diese Länder vermittelten auch wichtige Bücher – die Russen brachten Tschechow, und ich las erstmals Schiller und genoss sein Werk, das ich dann weiter las. Sein Gedicht „Das Geheimnis“ nutzte ich in „Nachleben“ als eine Art Liebesbrief zwischen den beiden Hauptfiguren. Es geht also nicht nur um einen Text als solchen, den ich zitiere, sondern auch um die Funktion, die er dabei erfüllt.

Ihre Hauptfiguren sind überwiegend männlich. Dennoch spielen Frauen in Ihren Büchern stets eine bedeutende Rolle – richtig?
Gurnah: Richtig. Und in meinem Roman „Dottie“ gibt es mit Dottie eine weibliche Hauptfigur. Und natürlich gibt es Figuren, deren Bewusstsein ich nicht vollends ausloten kann, und über die ich schreibe, als würde ich sie von außen beobachten. Aber nun, ich hatte eine Mutter – sie lebt nicht mehr –, ich hatte eine Tante, vier Schwestern, eine Ehefrau. Man kann nie vollkommen nachempfinden, was für Erfahrungen andere Menschen außerhalb meines Erfahrungshorizontes machten.

Dottie könnte eine Figur in einem der Romane von Jane Austen sein, etwa in „Mansfield Park“ – eine sozial eher ausgegrenzte Frau erhält durch Heirat Zugang zur besseren Gesellschaft. Lässt sich mit Austens Romanen die englische Gesellschaft von heute noch beschreiben und analysieren?
Gurnah: Aber ja! Für viele englische Leser – insbesondere englische, weniger britische – ist Austen ein Archetyp ihres Denkens. Weniger wegen ihrer gesellschaftlichen Beobachtungen der Aristokratie oder Oberklasse, die für manche durchaus interessant sind; aber andere lesen ihre Bücher kritischer, etwa wegen der Abwesenheit der Arbeiterschaft oder weil unklar bleibt, was diese hohen Offiziere tun und wofür sie kämpfen. „Mansfield Park“ ist berühmt für die Abwesenheit des Familienpatriarchen Thomas Bertram, der nach Antigua fährt. Der Roman wurde 1814 veröffentlicht, da konnte Bertram nur deshalb nach Antigua fahren, weil er dort eine Sklavenfarm besaß. Welche Rolle also spielte Sklaverei für den Wohlstand dieser Gesellschaft?

Und welche Relevanz hat Deutschland Ihres Erachtens heute für Tansania?
Gurnah: Deutschland ist Teil der Geschichte, es ist ein lebendiger Teil der Geschichte. Zum einen leben dort Nachfahren deutscher Siedler, zum anderen lebt im Süden noch die Erinnerung an den Maji-Maji-Aufstand sowie an die Rebellion der Volksgruppe der Hehe. Nach deren brutaler Niederschlagung wurde Chief Mkwawa enthauptet, sein Kopf als Trophäe einbehalten – und Jahrzehnte später zurückverlangt. Jetzt beginnen Museen mit der Rückgabe von Kulturgütern, und das zeigt mir, wie Erinnerung lebt.