08. November 2020
von Manfred Loimeier
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Afroamerikanische Autoren schreiben über ihren Alltag in den USA

Die aktuellen Proteste und Bürgerrechtsbewegungen in den USA stehen in einer langen Tradition. Vor rund einhundert Jahren schon schrieben die Autorinnen und Autoren der sogenannten Harlem Renaissance über den Alltag der dunkelhäutigen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. Die Parallelen zu heute sind verblüffend.

„Ich bin ein unsichtbarer Mann. Ich bin ein Mensch aus Substanz, aus Fleisch und Knochen, aus Fasern und Flüssigkeiten – ja, man könnte vielleicht sogar sagen, dass ich einen Verstand besitze. Ich bin unsichtbar, verstehen Sie, weil sich die Leute weigern, mich zu sehen. Es ist, als wäre ich von Zerrspiegeln aus hartem Glas umgeben, so wie die körperlosen Köpfe, die man mitunter auf Jahrmärkten sieht. Wer sich mir nähert, sieht nur meine Umgebung, sich selbst oder die Auswüchse seiner Phantasie – in der Tat alles und jedes, nur mich nicht.“

Der diese Zeilen schrieb – das war der US-amerikanische Autor Ralph Ellison in seinem 1952 veröffentlichten Roman „Der unsichtbare Mann“. Ellison zählte zu der Intellektuellenbewegung, die vor allem zwischen den beiden Weltkriegen unter der Bezeichnung Harlem Renaissance bekannt wurde. Der New Yorker Stadtteil Harlem war damals in den USA das Zentrum der afroamerikanischen Künstler, Musiker und Schriftsteller. In seinem Roman, der 2019 auch in einer neuen deutschsprachigen Ausgabe erschien, schildert Ellison, wie sehr die Existenz von Afroamerikanern im US-Alltag ausgeblendet ist. Anhand seiner im New York der 1930er Jahre lebenden namenlosen Hauptfigur zeigt Ellison, dass nichts, aber auch gar nichts im Selbstverständnis der US-Gesellschaft die Bedürfnisse, Ansprüche oder gar Verdienste von dunkelhäutigen US-Amerikanern anerkennt.

Dass Afroamerikaner in den USA leben, dass sie fühlen, hoffen und lieben, wird demnach der US-Mehrheit erst dann bewusst, wenn sie gewaltsam darauf gestoßen wird. Dieses Phänomen thematisierte ein anderer Schriftsteller, der Autor Richard Wright, bereits 1941 in seinem Roman „Sohn dieses Landes“. Er liegt ebenfalls seit 2019 in neuer deutscher Übersetzung vor. Kein Mensch schert sich darin um die junge Hauptfigur namens Biggers, aber als dieser die Tochter einer angesehenen weißen Familie tötet, wird er zum angeblich triebgesteuerten Medienstar. Die Hintergründe des Unfalltodes interessieren dabei nicht. Biggers aber fühlt sich durch den vermeintlichen Mord und die Berichterstattung darüber erstmals wirklich wahrgenommen – und ist von diesem Gefühl geradezu überwältigt.

„Diese Tat, der Mut der Verzweiflung, der dazu gehörte, und das furchtbare Entsetzen, das er dabei empfunden hatte, das alles bildete zum ersten Mal in seinem von Angst beherrschten Leben eine schützende Barriere zwischen ihm und der Welt, die er fürchtete. Sein Verbrechen war ein Anker, der ihn sicherte im Strom der Zeit, es gab ihm ein Gefühl der Sicherheit.“

Mit seiner Aufsatzsammlung „Schwarze Macht“, „Black Power“, aus dem Jahr 1954, gab Richard Wright einer anderen Bewegung in den USA das Motto, für Gleichberechtigung und gegen Rassismus zu kämpfen. Aber ob die Militanz der sogenannten Black Panther oder die Friedfertigkeit von Martin Luther King – letztlich trug ganz schlicht auch der Bedarf nach schwarzen US-Soldaten dazu bei, dass die US-Apartheidgesetzgebung 1964 formal aufgehoben wurde. Wer sonst hätte im Vietnamkrieg von 1965 bis 1973 auf US-amerikanischer Seite kämpfen sollen? Aber auch dieser Bedarf nach Menschen steht in einer düsteren Tradition, die Wright in seinem Buch „Schwarze Macht“ benennt.

„Die Sklaverei wurde nicht auf Grund von Rassentheorien eingeführt; vielmehr entstanden die Rassentheorien zu Beginn der Sklaverei, zu deren Rechtfertigung. Es wurde nämlich unmöglich, der zahlenmäßig geringen Bevölkerung Europas eine ausreichende Menge von Sträflingen und weißen Zwangsarbeitern abzuzapfen, so dass die Zucker-, Baumwoll-  und Tabakpflanzungen gewinnbringend, in großem Maßstab betrieben werden konnten. Da richtete Europa seinen Blick auf Afrika, dessen Menschenvorrat unerschöpflich schien, und es setzte der Raub oder Kauf von Afrikanern ein, die den von Indianern geraubten oder gekauften Boden bearbeiten sollten.“

Um als Mensch und nicht nur als Arbeitskraft wahrgenommen zu werden, gaben – und geben? – sich hellhäutige Afroamerikaner sogar als Weiße aus. „Passing“ heißt dieses soziale Phänomen des Hautfarbenwechsels, das ebenfalls literarisch gestaltet ist. „Seitenwechsel“, „Passing“ lautet sogar der Titel des 1929 erschienenen Romans der US-Autorin Nella Larsen. Sie thematisiert darin, was es bedeutet, sich eine neue Identität aufzubauen, die Verbindungen zu den dunkelhäutigen Verwandten abzubrechen oder zu leugnen – und dabei in Angst zu leben, dass der (Selbst-)Betrug auffliegt.

„Sie wollte herausfinden, was es mit dem riskanten Seitenwechsel auf sich hatte, diesem Ausbrechen aus allem, was einem vertraut und angenehm war, um sein Glück in einer anderen Umwelt zu versuchen, die vielleicht nicht ganz und gar fremd, bestimmt aber nicht ganz und gar angenehm war. Was man zum Beispiel mit der Herkunft machte, wie man sich fühlte, wenn man mit anderen Schwarzen in Kontakt kam.“

Die Nicht-Wahrnehmung von Afroamerikanern als gleichberechtigte Bürger hat in den USA zu unterschiedlichsten Bewegungen geführt. Und womöglich zeigt erst das Wissen um diese Nichtbeachtung, welche Sprengkraft in Slogans wie „Black is beautiful“ steckte oder in „Say it loud I’m black and I’m proud“. So legten in den 1960er Jahren Afroamerikaner ihre Nachnamen ab, die oftmals noch die Familiennamen der Sklavenhalter waren, nach denen ihre Vorfahren benannt worden waren. Stattdessen setzten sie ein „X“. Box-Weltmeister Cassius Clay zum Beispiel, Nachfahre von Sklaven der Farmerfamilie Clay, hieß zunächst Cassius X, bevor er sich Muhammad Ali nannte. Und Malcolm Little erlangte als radikaler Bürgerrechtler Malcolm X Berühmtheit. Er wurde 1965 erschossen – drei Jahre vor dem friedfertigeren Martin Luther King.

Kein Wunder, dass angesichts dieser Ausgrenzung sogar noch die US-Literatur der Gegenwart den Mythos von Afrika als Mutterland beschwört. So machte sich der New Yorker Schriftsteller Teju Cole im Jahr 2007 auf die Suche nach seiner nigerianischen Familie und beschrieb das in seinem Lagos-Buch  „Jeder Tag gehört dem Dieb“.

„Als ich in eine kleine sonnendurchflutete Straße im Herzen des Viertels einbiege, habe ich plötzlich das Gefühl, aus einem Grund hier zu sein. Es kommt mir vor wie eine Rückkehr, wie ein Mittelpunkt, obwohl ich hier noch nie gewesen bin. Ich möchte nicht gehen, doch ich weiß, dass ich nicht bleiben kann.“

Seit 1865 ist Sklaverei in den USA verboten, in den Jahren 1964 bis 1967 wurde die Apartheidgesetzgebung der USA aufgehoben. Doch noch immer sieht sich die schwarze Bevölkerung der USA diskriminiert, geht ein Riss durch die Gesellschaft. „Zwischen mir und der Welt“ nannte der US-Journalist Ta-Nehisi Coates seinen 2015 veröffentlichten Essayband. Er ist betitelt nach einem Satz aus Wrights Roman „Sohn dieses Landes“; da draußen ist die Welt, und da bin ich – aber eine gläserne Wand trennt mich von dieser Welt, an der ich nicht teilhabe und in der ich nicht existiere.

Offenbar hat sich nicht viel geändert seit Wrights Roman von 1941 bis Coates‘ Essay von 2015.

„Ich schreibe dir in deinem fünfzehnten Lebensjahr. Ich schreibe dir jetzt, denn dies ist das Jahr, in dem du gesehen hast, wie Eric Garner erwürgt wurde, in dem du erlebt hast, dass Renisha McBride erschossen wurde, weil sie Hilfe holen wollte, und dass John Crawford erschossen wurde, weil er durch ein Kaufhaus schlenderte. Und spätestens jetzt weißt du, dass die Polizeireviere deines Landes mit der Befugnis ausgestattet sind, deinen Körper zu zerstören.“

Aber nicht nur mit dem Titel „Zwischen mir und der Welt“ zitiert Coates ein literarisches Vorbild, Richard Wright, sondern auch mit der Form seines Essays. Da der Text als Brief an seinen 15-jährigen Neffen gehalten ist, greift Coates einen Appell auf, den der US-Autor James Baldwin im Jahr 1962 als Brief an seinen Neffen richtete. „Mein Kerker bebte“ lautet dessen deutscher Titel, neu übersetzt 2019. Baldwin erklärt darin, dass Afroamerikaner erst dann frei sein können, wenn sich die weißen Amerikaner von ihren Ängsten, Vorbehalten und Vorurteilen gelöst haben. Baldwin zufolge müssen Afroamerikaner nicht nur für ihre eigene Freiheit kämpfen, sondern vor allem auch für die Befreiung der weißen US-Gesellschaft von der Ideologie des Rassismus.

„Vor rund fünfzehn Jahren bist Du auf die Welt gekommen. Du bist in eine Gesellschaft hineingeboren, die Dir mit brutaler Offenheit und auf vielfältigste Weise zu verstehen gibt, dass Du ein wertloser Mensch bist. Alles, was Dein Leben ausmacht und verkörpert, ist bewusst so angelegt, dass Du glauben sollst, was Weiße über Dich sagen. Sie sind noch immer in einer Geschichte gefangen, die sie nicht verstehen. Viele Jahre und aus unzähligen Gründen mussten sie glauben, Schwarze seien weniger wert als Weiße. Aber diese Menschen sind Deine Brüder. Wir können erst frei sein, wenn sie frei sind.“ 

Dass nun bei jüngsten Demonstrationen in den USA auch der Slogan „White silence is violence“ zu hören ist, „Weißes Schweigen ist Gewalt“, ist in diesem Zusammenhang Ausdruck einer konsequenten – und dieses Mal vielleicht nachhaltigen – Solidarität und Veränderung.