18. April 2023
von Manfred Loimeier
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Bénédicte Savoy spricht über Restitution afrikanischer Kulturgüter

Bénédicte Savoy ist die beste Ansprechpartnerin für Fragen zur Restitution afrikanischer Kulturgüter. Gerade arbeitet die Kunstgeschichte-Professorin mit Kolleginnen und Kollegen an einem Band über Deutschland Besitz an Kunstschätzen aus Kamerun – und das betrifft auch Mannheim.

Frau Savoy, die Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen verfügen über die Sammlungsbestände des Kolonialoffiziers Theodor Bumiller. Was empfehlen Sie dem Museum, das sich bezüglich dieser Bestände auf die Heidelberger Erklärung stützt, also Informieren der Betroffenen, Teilen des Wissens, transparente Forschung?

Bénédicte Savoy: Ich habe überhaupt keine Empfehlung an Museen zu geben, das ist nicht meine Rolle. Ich arbeite an der Universität und habe den Luxus – und daher bin ich auch bescheiden mit Empfehlungen –, keine Verantwortung für Sammlungen zu haben. Aber ich arbeite seit vielen Jahren mit Museen, mit Kolleginnen und Kollegen aus den Museen zusammen, und ich weiß, dass sie eine etwas andere DNA haben, nämlich das Konservieren, das Behalten, das Gefühl, dass einem nach mehreren Generationen etwas gehört. Das ist tief verankert, und das muss man ernstnehmen – daher erstens Bescheidenheit; zweitens glaube ich, dass es an der Zeit ist, die Bestände zu publizieren, das heißt. für alle sichtbar zu machen. Natürlich hätte man das viel früher machen müssen, aber das kann man nicht denen vorwerfen, die das erst heute tun. Diese Intransparenz ist kein Zufall, ist eine Strategie gewesen; sie war während er 1970er, 1980er Jahre in Westdeutschland eine ausdrücklich formulierte Strategie der Museen: nichts zu veröffentlichen, um „keine Begehrlichkeiten zu wecken“, wie sie selber schrieben. Das haben unsere Väter und Großväter uns als Erben hinterlassen, also den Erwachsenen von heute, und für Museumsleute ist das eine enorme Verantwortung, dass sie jetzt den Job machen müssen, den Generationen vor ihnen mit Absicht nicht gemacht haben. Diese Verantwortung ist gekoppelt mit sehr viel Druck von Leuten wie mir und aus der Zivilgesellschaft, denn die Ungeduld ist groß geworden und sie müssen schnell, im Turbo-Modus, handeln. Deshalb ist Transparenz das absolute A und O – Publikationen, Offenheit, Onlinestellen aber auch Schnelligkeit. Das ist nicht einfach, das ist mir bewusst, und ich will da nicht mit erhobenem Zeigefinger kommen.

Wäre es denn mit einer Rückgabe getan?

Savoy: Nein, auf gar keinen Fall! Ich nehme lieber das Wort Restitution – dieses Wort meint nicht, dass man Gegenstände von A nach B bewegt und umgekehrt und das war’s. Die Frage ist gewissermaßen falsch. Die Restitution, also die Tatsache, dass bestimmte Dinge jetzt zurückgegangen sind, schließt nicht einen Prozess ab, sondern öffnet, öffnet Zukünfte – durchaus im Plural! Allerdings entstehen diese Zukünfte nur, wenn diese Objekte auch konkret zurückkommen. Beispiel: Die Rückgabe der 2,5 Tonnen Kulturgüter nach Cotounou, Benin, die seit 100 Jahren in Frankreich waren. Als klar wurde, dass die Republik Benin nun die Verantwortung dafür hat, folgten die Fragen: Wo und wie wollen wir diese Kulturgüter aufbewahren, was machen wir damit, wie nennen wir sie, wo zeigen wir sie und für wen, welche Gesetze machen wir dazu, welche weitere Maßnahmen treffen wir? Sie wissen vielleicht, dass ich mich anfangs, vor 20 Jahren, mit dem napoleonischen Kunstraub in Deutschland befasst habe. Als die Hunderte von Napoleon in Preußen beschlagnahmten Kunstwerke 1815 nach sieben Jahren in Paris zurückkamen, gab es in Berlin kein öffentliches Museum. Es dauerte 15 Jahre, bis die Berliner wussten, was sie damit machen wollten – nämlich ein Museum zu gründen. Diese 15 Jahre an Verhandlungen und Diskussionen – welcher Architekt soll das Museum bauen und für wen ist es gedacht? – genau das ist Restitution, das ist der Sinn der Sache. Es geht nicht nur um Transport.

Was bezieht man in diese Restitutionsdebatte mit ein? Die Reiss-Engelhorn-Museen verfügen auch über die Sammlung von Franz und Pauline Thorbecke, die teils auf einer Forschungsexpedition, teils auf einer militärischen Expedition zustande kam. Ist die eine Expedition legal gewesen, die andere nicht? Die Forschungsexpedition erfolgte ja auch in einem kolonialen Kontext und erfüllt von daher Restitutionskriterien?

Savoy: Die Sammlung Thorbecke ist extrem interessant als Beispiel. Ich bereite gerade ein Buch vor mit Prof. Albert Gouaffo und weiteren Kolleginnen und Kollegen aus der Universität in Dschang, d.h. genau aus der Region, die beide Thorbeckes bereist haben, und das berührt nicht nur die Sammlung Thorbecke, sondern zeigt die massive Extraktion, die Wegnahme von Kulturgütern aus Kamerun, sowie die oft gewalttätigen Bedingungen dieser Extraktion. Deshalb weiß ich, dass die Sammlung Thorbecke einen besonderen Stellenwert hat: eine „wissenschaftliche“ Reise, die in einem Rahmen stattfindet, der, wie Sie selbst schon gesagt haben, höchst militarisiert ist. Die beiden Thorbecke bewegen sich in einer Gegend, die zum damaligen Zeitpunkt 15 Jahre unter Dauerkrieg war – Strafexpeditionen, Feldzüge, Kriegszüge haben die Region verwüstet. Die Thorbecke kommen gegen Ende der Kolonialzeit, manche Regionen sind „pazifiziert“ – das heißt, der Widerstand der lokalen Bevölkerung ist niedergeschlagen worden – und sie bewegen sich innerhalb davon. Sie besuchen den Sultan in Fouban, der schon aus Strategie eher freundschaftlich ist, ihre Gepäckstücke und „Sammlungen“ werden von hunderten von Trägern transportiert, nämlich afrikanische Männer und Frauen, die die Lasten auf den Kopf tragen. Natürlich berührt das dann auch die Frage nach Kollaboration und Widerstand … Frau Thorbecke beschreibt, wie die Träger gepeitscht werden, wenn sie sich nicht genug bewegen, sie haben Waffen dabei, Militärbegleitung. Die Mobilität der Weißen in diesen Landschaften ist nur möglich, weil es den militärischen Apparat gibt.

Sie haben es angesprochen: Wirft Restitution nicht auf afrikanischer Seite auch die Frage nach Kollaboration auf?

Savoy: Ja. Es geht nicht darum, die einen zu beschuldigen und die anderen freizusprechen. Entschuldigen Sie, dass ich mich nochmals auf Kamerun beziehe, aber bedenken Sie, dass sich aus Kamerun, der ehemaligen deutschen Kolonie, heute noch 40000 Inventarnummern in deutschen öffentlichen Museen befinden, die also den Zweiten Weltkrieg überstanden haben – einige wurden zerstört, andere sind vielleicht in Russland. Wir wissen, dass es vor dem Zweiten Weltkrieg 60000 Inventarnummern waren. Frankreich, die folgende Kolonialmacht in Kamerun, hat zirka 10000 Gegenstände aus Kamerun in öffentlichen Museen. Das britische Museum 1400 aus dem britischen Teil. Wir haben überhaupt keine Vorstellung davon, wie viel extrahiert worden ist, und dass Deutschland das Land mit dem weltweit größten kamerunischen Kulturerbe ist. Weit mehr als Kamerun selbst hat: 6000 Inventarnummern im Nationalmuseum in Yaoundé. Es ist eine riesige Akkumulation hier, aber unsichtbar, unpubliziert, kaum verzeichnet. Der erste Schritt ist, zu verstehen, wie enorm und massenhaft diese Extraktion war. Natürlich kann man über Kollaboration sprechen, darüber, wie die Sachen wegkamen. Die Skala reicht von Frau Thorbeckes eher „touristischer Art“, sie beschreibt, dass ihnen Leute auch etwas anboten, bis hin zur blutigen Kriegsbeute. Denn am anderen Ende der Skala sind Offiziere wie Hans Dominik oder Karl Adametz, die ihren Feinden den Kopf abgeschlagen und die Schädel nach Deutschland geschickt haben oder beschreiben, dass sie während eines Feldzuges hundert Dörfer in Brand gesetzt haben und dass die Beute reich war. Auch die Rolle der Missionare muss mitgedacht werden, aber trotzdem bleibt am Anfang die Feststellung einer unbekannten, unerkannten Präsenz bei uns, und in Kamerun heute eine unbekannte, ungeahnte, aber gefühlte Absenz.

Es gibt hier in der Region ein weiteres Völkerkundemuseum, der Portheim-Stiftung in Heidelberg, das 1921 gegründet wurde. Der damalige Geschäftsführer der Stiftung, Alfred Zintgraff, war von 1902 bis 1914 an deutschen Konsulaten in Ostafrika beschäftigt – Sansibar, Kenia, Äthiopien. Fallen diese Bestände ebenfalls unter die Restitutionsdebatte oder kann man das Völkerkundemuseum „freisprechen“?

Savoy: Es geht nicht um Schuld, Unschuld oder Freisprechen. Wenn Museen in öffentlicher Hand sind – in unserer Hand als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – dann gehört das uns Steuerzahlern, die wissen möchten, was genau uns gehört. Dazu gehört das Wissen, wie, wann, durch welche Hände diese Objekte zu uns gekommen sind – egal ob legal oder illegal. Das ist die sogenannte Traceability – wenn Sie zu Ikea gehen, wollen Sie auch wissen, woher das Holz kommt. Wenn sich Teenager bei H&M ein T-Shirt kaufen, dann schauen sie mittlerweile auch aufs Etikett. Das heißt, diese Traceability ist normal geworden für uns heutzutage. Wir Europäer wollen zunehmend wissen, woher unser Luxus kommt. Das gilt genauso für intellektuelle Luxusgüter oder für kulturellen Konsum. Das heißt, zunächst wollen und müssen wir das wissen. Die Frage, ob diese Objekte legal oder illegal gekommen sind, ist für mich zweitrangig – erstrangig ist: Wird das irgendwo vermisst? Sagt jemand, das hätten wir gerne? Aber bevor das jemand sagen kann, müssen die Bestände bekannt sein. Niemand wird etwas vermissen, das unbekannt ist und in Kellern lagert. Das heißt, dieser Schritt nach außen – der Transparenz, der Publikation dessen, was wir haben und wie es hierhergekommen ist – ist die Voraussetzung dafür, wie es weitergeht. Man muss nicht alles zurückgeben, aber wenn Restitutionsforderungen artikuliert werden, sollte die Antwort der besitzenden Institution grundsätzlich tendenziell Ja sein und nicht Nein wie bisher – egal, ob die Sachen legal oder illegal erworben wurden. Also auch wenn etwas legal erworben wurde und es dann Ansprüche gibt, müsste aus meiner Sicht die Antwort sein: Lasst uns ins Gespräch kommen, vor allem wenn in Deutschland das beanspruchte Gut noch nie gezeigt oder publiziert wurde.

Das berührt die Debatte zwischen einer juristischen oder moralischen Haltung. Juristisch war der Erwerb der Benin-Bronzen aus London korrekt, moralisch ist er unverantwortlich. Jetzt werden die Bronzen zum Teil zurückgegeben. Kann man sich auf dieses Vorgehen der Bundesregierung berufen?

Savoy: Moral und Ethik sind hier etwas rückwärtsgewandt, Richtung Schuldfrage. Ich glaube aber, dass diese Debatte viel mehr nach vorne führt. Ich würde vor allem neue Möglichkeiten für die gemeinsame Gestaltung der Zukunft in Betracht ziehen, und deswegen würde ich fast sagen, dass es nicht um Moral und Ethik geht, sondern um das Gestalten. Gestalten von dem, was wir werden wollen als Menschheit, um eine neue Ethik der Beziehung unter anderem mit Afrika.

Die Zukunftsperspektive finde ich höchst interessant – der Begriff Restitution müsste dann auch ersetzt werden, durch … Konstitution . . .

Savoy: Ja. Als es in Cotonou, Benin, eine Ausstellung der zurückgekommenen Objekte gab, lautete der Titel „Restitution Revelation“, und Revelation meint sehr spirituell Entschleierung, Erhellung. Der Begriff Restitution ist deshalb wichtig, weil er ein politischer Begriff ist, der lange mit Absicht unterdrückt wurde. Als wir vor fünf Jahren mit Felwine Sarr zusammenarbeiteten und von Restitution sprachen, war die Reaktion oft, lieber von „Zirkulation“ zu sprechen.  Es liegen Lichtjahre zwischen den Begriffen „Zirkulieren“ und „Restituieren“!

Die Restitutionsforderungen sind nicht neu, Sie schreiben selbst, dass sie bereits Jahrzehnte zurückdatieren. Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass sich jetzt etwas ändert?

Savoy: Ich benutze sehr oft diese Metapher des Kulturministers 2018 von Benin, Oswald Homeky, der sagte, er glaube nicht an unsere Restitution, aber wenn sie geschähe, dann sei das wie der Fall der Berliner Mauer oder die Vereinigung der beider Koreas. Das heißt: einerseits unvorstellbar, andererseits eine grundsätzliche Veränderung der geopolitischen – oder geopoetischen – Lage. Und jetzt ist diese Mauer gefallen beziehungsweise hat sie durch die Restitution nach Benin und Nigeria eine Bresche bekommen. Und diese Bresche gibt mir Hoffnung, da sieht man bereits, welche positiven Folgen in manchen Ländern wie Benin das hat. Alle diese Mären, dass sich die Afrikaner nicht für ihr Kulturerbe interessieren, dass sie keine Geschichte habe, nicht einmal wüssten, dass sie Kunst haben, haben sich als falsch erwiesen, und das gibt mir Hoffnung. Und zugleich, dass durch die sozialen Medien, durch die Möglichkeiten, sich zu informieren und international zu verbünden, Intransparenz nicht mehr möglich ist. Unsere Museen sind zu Transparenz gezwungen, und auch das gibt mir Hoffnung.

 

 

Bénédicte Savoy, geb. 1972 in Paris, studierte in Paris und Berlin Germanistik, worin sie auch promovierte.

Von 1997 bis 2001 Dozentin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Berlin, seit 2003 Professorin für Kunstgeschichte an der TU Berlin.

2015 Gastprofessorin am Collège de France in Paris.

2018 war sie mit Felwine Sarr Beraterin des französischen Präsidenten zu Bedingungen der Restitution afrikanischer Kulturgüter und veröffentlichte mit Sarr das Buch „Zurückgeben“ (Matthes & Seitz, Berlin).

Savoy veröffentlichte überdies den Band „Afrikas Kampf um seine Kunst“ (C.H. Beck, München) und arbeitet mit einem Autorenkollektiv gerade an „Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland“ (Reimer, Berlin, erscheint am 1. Juni). loi