03. Oktober 2021
von Manfred Loimeier
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Die US-äthiopische Autorin Maaza Mengiste widmet der italienischen Kolonialzeit in Ost-Afrika einen Roman

Frauen haben in den Kriegen dieser Welt schon immer eine tragende Rolle gespielt – aber die Heldengeschichten wurden dann in der Regel aus männlicher Sicht geschrieben. Die äthiopisch-US-amerikanische Autorin Maaza Mengiste will das ändern. Hat sie in ihrem ersten Roman „Unter den Augen des Löwen“ die Schattenseite der Herrschaft von Äthiopiens Kaiser Haile Selassie thematisiert, beschreibt sie in ihrem zweiten Roman „Der Schattenkönig“ (dtv, München 2021, 575 Seiten, 25 Euro)den Nimbus, den dieser Herrscher im Krieg gegen die italienische Kolonialarmee ausstrahlte.

Ein Loblied auf Haile Selassie ist der Roman „Der Schattenkönig“ aber dennoch nicht, schildert Mengiste doch auch Flucht und Exil des Kaisers im Jahr 1936, als die faschistischen Truppen Benito Mussolinis die Hauptstadt Addis Abeba einnahmen und aus Eritrea, Äthiopien und Italienisch-Somalia die Kolonie Italienisch Ost-Afrika formten. Wer hingegen den Äthiopiern zu Hilfe kommt, das sind die zahlreichen Widerstandskämpfer – und unter ihnen nicht wenige Frauen. Hinter den Kampflinien versorgen sie die Männer mit Waffen und Munition, kümmern sich um Verletzte und ziehen zuletzt teils selbst in die Schlacht. Mehr Rechte erhalten sie dadurch in der patriarchalen Gesellschaft Äthiopiens aber nicht.

Aus der Sicht mehrerer Heldinnen und Helden dieses Widerstands hat Mengiste die Handlung ihres Romans komponiert und sich dabei zum Teil an Erzählungen und Überlieferungen orientiert. Da ist der Freiheitskämpfer Kidane, da sind seine beiden Frauen Aster und Hirut, da ist der italienische Offizier Carlo Fucelli, schließlich der Kriegsfotograf Ettore Navarra, ein Jude, der deshalb zuletzt selbst um sein Leben fürchten muss. Und dann ist da noch Minim, ein Hirte, der Haile Selassie so ähnlich sieht, dass die Widerstandskämpfer mit ihm als Schattenkönig das Gerücht verbreiten, der Kaiser habe das Land gar nicht verlassen, und damit den Rückzug der Italiener erreichen.

Psychologie des Krieges

Aus ihrer aller Sicht zeichnet Mengiste die Schrecken des Krieges, aber nicht etwa mit dem Ziel eines historischen Romans, sondern als Panoptikum menschlichen Strebens: Fucelli, der ein Kriegsheld werden will; Kidane, dem seine Frau Aster keinen Sohn gebären kann und der deshalb Hirut bedrängt. Hirut, die Gleichberechtigung wünscht, sie aber weder als Frau in einem Patriachat noch als Magd in einem herrschaftlichen Haushalt findet. Krieg findet in diesem Roman weniger als Schlachtengetümmel statt, sondern als psychologischer Niederschlag in den Protagonisten.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Figur des Fotografen Ettore. Er dokumentiert und überliefert nicht nur das Geschehen, sondern er macht in seinen Porträts von Gefangenen auch deren Gefühle sichtbar – und damit gleichermaßen, durch seinen kritisch-neugierigen Blick, seine eigenen Zweifel am Krieg und seinen Respekt für die Gegner.

So vielstimmig der Roman gestaltet ist, so vielfältig hat die Autorin Mengiste ihn auch formal gehalten. Mal spricht zudem ein Chor, mal wird ein Foto beschrieben, mal gibt es ein Zwischenspiel, dazu einen Prolog und einen Epilog. Geschichte ist bei Mengiste nicht chronologisch linear und irgendwann beendet, sondern mehrfach ineinander verzahnt und wiederkehrend. Und so berichtet Mengiste nicht nur von dem vergangenen Kolonialkrieg Italiens in Äthiopien, sondern auch von dessen Folgen bis heute und davon, wie Geschichte und Gegenwart vom individuellen Handeln jedes einzelnen Menschen abhängen. Das ist großartig und kann zugleich als Ergänzung oder Erwiderung zu Francesca Melandris Roman „Alle außer mir“ gelesen werden, in dem die italienische Schriftstellerin zwei Jahre vor Mengiste den italienischen Kolonialkrieg in Äthiopien am Beispiel und aus der Sicht einer italienischen Familie schilderte. Die koloniale Vergangenheit holt alle wieder ein und bringt sie bestenfalls zusammen: die Söhne und Töchter der vormaligen Kolonisatoren wie ihrer Widersacher.

 

Frau Mengiste, mit ihrem zweiten Roman erinnern Sie an die Kolonialzeit Italiens in Afrika. Was interessiert Sie daran?

Mein Roman ist in der Zeit vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs angesiedelt. 1935 erfolgte die italienische Invasion unter Benito Mussolini in Äthiopien, denn Äthiopien war das letzte unabhängige Land – und Italien wollte ein Stück Afrika, obwohl Italien damit schon spät dran war, naja, wie immer … Was Haile Selassie dann als Staatsoberhaupt einer kleinen Nation in der ganzen Welt so beeindruckend machte, war genau das, denn er erhob seine Stimme und sagte: Nein! Aber was folgte, war ein kurzer Krieg von sieben Monaten. Italien hatte eine technisch viel weiter entwickelte Armee, während die Äthiopier mit Waffen aus den 1890er, 1900er Jahren kämpften. Es waren Bauern, keine organisierten Militärs wie die Italiener – sie kämpften zwar entschlossen, aber angesichts der überlegenen Ausrüstung und dem Kampfgas seitens der Italiener war es eben nach sieben Monaten vorbei. Was dann aber begann, war ein Guerillakrieg. Die Kämpfer zogen sich in Höhlen und in die Berge zurück und starteten Überraschungsangriffe oder agierten aus dem Hinterhalt. So kämpften die Äthiopier bis 1941, als die Italiener dann abzogen.

 

Es ist kein historischer Roman, aber was genau thematisieren Sie?

Mein Roman beschreibt einerseits die äthiopische Sicht. Was viele Menschen nicht wissen, ist, dass neben den Männern auch Frauen kämpften. Frauen leiteten Kampfgruppen, die aus Männern bestanden. Und dieser Teil der Geschichte interessierte mich. Das war im 18. Jahrhundert schon vorgekommen, damals leitete eine Königin eine Armee von 40000 Männern. Und das wiederholte sich nun 1935. Das bedeutet aber nicht, dass die äthiopischen Männer fortschrittlich waren oder weniger chauvinistisch, sondern es bedeutet nur, dass die Frauen nicht nur für die Männer kochen, sondern auch Gewehre tragen wollten – und dann kämpften sie. Es war nicht so, dass die Männer sie um Hilfe gebeten hätten – die Frauen sagten: Hier sind wir. Das machte auch nicht jede Frau, aber es waren viele genug, und ihre Geschichte wurde bisher nicht erzählt. Als Haile Selassie die Menschen zum Kampf aufrief, sagte er, dass jeder kampftüchtige Mann, egal wie alt, zum Gewehr greifen und in den Krieg ziehen solle. Den Frauen sagte er, ihre Küchenmesser, Töpfe und Pfannen zu nehmen und für die Männer zu kochen und sich um die Verletzten zu kümmern. Aber es gab Frauen, die sagten, sie könnten mehr tun, wenn sie schon an der Front seien. Manche von ihnen trugen dieselben Uniformen wie die Männer, manche trugen nach wie vor Kleider. Und die Männer brauchten eine Weile, das zu akzeptieren. Es ist ein tatsächlich sehr interessanter Zeitabschnitt in der Geschichte!

 

Und andererseits?

Mich interessierte auch die italienische Seite. Als ich in Rom lebte, recherchierte ich sehr viel, und das steigerte mein Interesse auch an dieser anderen Perspektive. Wie fühlt es sich an, ein faschistischer Soldat zu sein und in ein Land zu gehen, ohne jemals schwarze Menschen gesehen zu haben – und diese nun zu erschießen? Glaubst du an das, was du tust? Wie sehr glaubst du daran? Wie fühlt es sich an? Nach dem Krieg blieben viele Italiener in Äthiopien. Ich habe selbst Cousins, die Halb-Italiener sind. Und mich interessiert, wie man mit Menschen zusammenleben kann, auf die man geschossen hat. Oder welche Art von Rassismus wirkt sogar noch in Liebensbeziehungen? Diesen Fragen gehe ich in dem Buch nach.