08. November 2020
von Manfred Loimeier
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„Eine Deutschlandreise“ von Thomas Wolfe

Kaum ein Autor war so begeistert von Deutschland wie der US-amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe. In Frankfurt besuchte er das Goethe-Haus, in Berlin plauderte er mit dem Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, in München prügelte er sich auf dem Oktoberfest mit Unbekannten. Über zehn Jahre hinweg, von 1926 bis 1936 hat er seine Reiseerlebnisse zu Literatur gemacht, nun erscheinen seine Aufzeichnungen gesammelt in einem Band.

Es ist immer wieder erschütternd zu lesen – und dabei nicht annähernd zu erfassen –, wie verheerend und nachhaltig Deutschland sein einstmals auch von Bewunderung begleitetes Image durch den Nationalsozialismus zerstörte. Ein Beispiel dafür gibt das Buch „Eine Deutschlandreise“ des US-Autors Thomas Wolfe (Manesse Verlag, 410 Seiten, 25 Euro). Mit Romanen wie „Schau heimwärts, Engel“, „Die Party bei den Jacks“ oder „Von Zeit und Fluss“ ist er ein Klassiker der modernen US-Literatur neben William Faulkner und F. Scott Fitzgerald.

Das Buch „Eine Deutschlandreise“ ist eine Zusammenstellung von Briefen, Notizen, Skizzen und Erzählungen. Wolfe hat sie in den Jahren 1926 bis 1936 bei einem halben Dutzend Reisen nach Deutschland, seiner geliebten Wahlheimat, geschrieben. Und es erstaunt schon, zu sehen, wie tief das Klischee von einem romantischen Deutschland der Flüsse, Burgen und Wälder noch Anfang des 20. Jahrhunderts wirkte. Schief stehende, märchenartige Fachwerkhäuser in den engen Gassen mittelalterlicher Städte und dazu die Schlösser und Ruinen entlang des Rheins – für Wolfe war Deutschland ein Sehnsuchtsort ohnegleichen, sein „Zauberland“.

„Es ist tatsächlich ein sagenhaftes Land – eine wie verzauberte Landschaft, in der man die wirkliche Welt hinter sich zu lassen glaubt und meint, eine neue betreten zu haben, in der alles möglich scheint. Man begreift all die Sagen, die sich um diese Gegend ranken, sobald man sie sieht. Der Fluss zieht und windet sich hindurch wie ein Zauberfaden, und alles führt hinunter zum Fluss. Doch was den Rhein so wundervoll macht, sind die Zeugnisse aus Jahrhunderten, die er mitführt, und all die reiche Kultur, von der er durchdrungen ist. Da haben wir für unseren Hudson sehr wenig getan, außer ihn mit Zuckerraffinerien und Öltanks zuzupflastern.“

Nicht weniger erstaunt es, wie hartnäckig Wolfe an das Gute im Wesen der Deutschen glaubte – selbst als zahlreiche Exilanten schon über die politische Entwicklung seit 1933 berichteten. Es dauerte lange, bis Wolfe seine verklärte Meinung von Deutschland korrigierte. Und dabei blieben ihm noch die schlimmsten Jahre erspart, wenn man seinen frühen Tod im Alter von nur 38 Jahren im Jahr 1938 so werten mag.

„Überall rings um mich her sah ich, während die Zeit in jenem Frühling und Sommer 1935 voranschritt, die Zeichen dieser Auflösung, dieses Schiffbruchs eines großen Geistes, dieses miasmatische Gift, das wie ein pestilenzialischer Nebel mit der Luft einsickerte und das Leben eines jeden Menschen, dem ich begegnete, mit seinem ätzenden Hauch verunreinigte, ansteckte, verdarb. Es war, und dies überall, so unsichtbar wie eine Seuche und so unmissverständlich wie der Tod; es drang durch all die goldene Frühlingsfreude in mich ein, bis ich es schließlich spürte, atmete, lebte und als das erkannte, was es war.“

Die detaillierten Schilderungen Wolfes von den Veränderungen im Alltag Deutschlands sind es, die diesen Band so ungemein lesenswert machen. Es geht weniger um Geschichtsdaten und politische Positionen, sondern um atmosphärische Strömungen und das Wachsen von Angst, Misstrauen und Verzweiflung.

Gleichwohl wird diese Entwicklung in Wolfes Schreiben auch durch knapp 400 Anmerkungen, ein Nachwort, eine Zeittafel und ein Literaturverzeichnis ergänzt. Der Herausgeber Oliver Lubrich hat das aber so erstellt, dass dieser Band nicht wie eine Zusammenstellung fragmentierter Texte wirkt, sondern wie ein fesselnder Blick in eine Autorenpsyche und in die Bedingungen und Begleiterscheinungen eines persönlichen Wandels. Renate Haen, Barbara von Treskow und Irma Wehrli haben in ihren Übersetzungen die Spontanität und die (Selbst)Zweifel Wolfes gut zum Ausdruck gebracht. Auch deshalb ist dieser Band „Eine Deutschlandreise“ ein Etappenstein zum Verständnis zum einen des literarischen Werkes von Wolfe, zum anderen der jüngsten Vergangenheit Deutschlands, die noch immer die Gegenwart dieses Landes prägt – und damit eben nicht vergangen ist.