01. September 2023
von Manfred Loimeier
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Felwine Sarr hat mit „Die Orte, an denen meine Träume wohnen“, einen philosophischen Roman veröffentlicht

Herr Sarr, Ihr Roman „Die Orte, an denen meine Träume wohnen“ lässt sich auf vielerlei Weise lesen: auf einer kulturellen Ebene als Gegenüberstellung Europas und Afrikas im Sinne von Rationalität versus Spiritualität; auf einer kulturhistorischen Ebene als Kritik der Negritude, die europäische Vernunft und afrikanisches Gefühl postulierte; auf einer literarischen Ebene als Hermann Hesses Grundfrage zwischen vita activa oder vita contemplativa; schließlich auf einer (teil-)autobiografischen Ebene: der Ökonom und der Philosoph; und schließlich auf einer ethischen Ebene im Sinne der Frage, wie die Menschen dieser Welt miteinander umgehen. Was davon trifft zu?

Felwine Sarr: In der Tat besteht meines Erachtens kein Gegensatz zwischen Rationalität und Spiritualität. Es ist vielmehr interessant, dass die Wissensorte Afrikas als esoterische, spirituelle oder magische Orte wahrgenommen werden und man verweigert, sie als Wissensorte zu sehen. Sehen Sie, die Schauplätze von Initiationen sind Orte, an denen das Wissen einer Gemeinschaft übertragen wird. Die Lieder, die die Initianden lernen, sind Lieder, die aus einer rhythmischen Folge von Vokalen und Konsonanten bestehen, um so das Gedächtnis zu schulen. Das ist eine Mnemotechnik, und sie lernen damit die Position der Sterne, um die Lage des Meeres verorten zu können, sie lernen, welche Pflanzenwurzeln essbar sind. Das alles ist Wissen über Realität, Wissen, das fürs Überleben erforderlich ist.

Und wo ist dabei die Spiritualität?

Sarr: Innerhalb dieses Wissensbereichs gibt es ein Wissen, das die bekannten physikalischen Gesetze von Raum und Zeit übersteigt – seinen Körper zu verlassen und zu reisen, die Begrenzungen des Raumes zu überschreiten. Was ich wünschte, ist eine Epistemologie, eine Erkenntnistheorie, die vorsieht, dass es ein Wissen jenseits der Begrenzungen der klassischen Physik Newtons gibt. Es geht um ein Wissen, das sich außerhalb des bekannten rationalen Wissens befindet. Das hat überhaupt nichts mit dem Klischee Vernunft hier, Gefühl dort zu tun. Sondern diese Vorstellung von Leben geht von einer Einheit des Lebens aus. Wenn man seinen Körper verlässt, wenn man die Gestalt eines Vogels oder eines anderen Tieres annehmen kann, wenn man die Trennung zwischen Mensch und Tier aufhebt, dann kann man auch die Eigenschaften eines Baumes annehmen, zum Baum werden. Man kann eine Lebensform leben und in eine andere Lebensform wechseln – das ist eine ökologische Auffassung, keine esoterische. Es gibt eine Wissensauffassung, die von einer Pluralität an Dimensionen ausgeht, die das rationale Wissen dessen übersteigen, was die die klassische Physik ist.

Wenn Sie gewohnte Gegensätze als Einheit sehen, ist dann auch Hermann Hesses Unterscheidung zwischen vita activa und vita contemplativa für Sie kein Gegensatz?

Sarr: Grundsätzlich: Ja, ich stimme zu, dass es in meinem Roman um die Entscheidung zwischen vita activa und vita contemplativa geht. Die eine Hauptfigur, Bouhel, geht in ein Kloster und vertraut sich Bruder Tim an. Indem Bouhel ins klösterliche Exil geht, um ein neues Leben zu beginnen, macht er den Schritt eines vita activa. Aber im Kloster findet er Stille und die Möglichkeit zur Innenschau, zum Nachdenken. Er begreift aber auch, dass es nicht sein Leben ist, sich zurückzuziehen, zu meditieren und ein Leben zu führen, das aus Ruhe und Zurückgezogenheit besteht. Hier findet sich in der Tat diese von Hermann Hesse beschriebene Spannung zwischen vita activa und vita contemplativa, wie sie sich auch in Büchern Hannah Arendts findet, in „Vita activa oder Vom tätigen Leben“, ebenso wie in der japanischen Kultur oder in der Kultur der islamischen Sufi. Vielleicht ist Literatur der Ort, an dem es gelingen kann, im aktiven Leben ein spirituelles Leben zu führen – ein spirituelles Leben, das sich nicht von der Welt separiert.

Und ist das auch Ihre Erfahrung? Bouhel gibt Bruder Tim seinen ersten Roman über eine Suche nach Identität zu lesen, wie auch Ihr eigener erster Roman die Suche nach Identität schildert . . .

Sarr: Auch da haben Sie recht, es gibt hie und da Momente, die ich einstreue. Ich denke nicht, dass man in einem Roman sein eigenes Leben erzählt, aber man spricht von seiner Existenz, von der Existenz anderer Leben und von Dingen, die man gesehen hat, neu formuliert und fiktionalisiert. Man wählt diejenigen Elemente seiner Existenz aus, macht sie zum literarischen Objekt, holt sie aus ihrer Isolation, die es erlauben, eine existenzielle Frage zu thematisieren und über das Leben nachzudenken. Und ja, mein erster Roman ist wie Bouhels erster Roman ein Roman über eine Suche.

Und was folgt aus diesen Überlegungen mit Blick auf das Zusammenleben von uns Menschen?

Sarr: Man muss sich vorstellen, dass Bouhel, der aus Afrika kommt, sich fragt, wie er in der Familie seiner Freundin Ulga aufgenommen wird: Gibt es Rassismus, wird er akzeptiert? Aber Ulgas Eltern heißen den Studenten aus Afrika willkommen. Das ist eine ethische Entscheidung: die Möglichkeit einer Begegnung außerhalb des Vertrauten zuzulassen. Es gibt kein Befremden, es gibt keinen kulturellen Austausch, aber es gibt eine Ebene der Humanität. Was auch interessant ist: Ulga lässt eine Dimension zu, die ihr Vorstellungsvermögen übersteigt. Sie akzeptiert die Aufforderung von Bouhels Bruder aus Afrika, ein bestimmtes Samenkorn zu finden und zu glauben, dass dieses Samenkorn es vermag, Bouhel aus der Haft zu holen.