27. November 2021
von Manfred Loimeier
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Gespräch mit Abdulrazak Gurnah, 2001

Im Jahr 2002 erschien in deutschsprachiger Übersetzung Abdulrazak Gurnahs Roman „Ferne Gestade“ („By the Sea“). Im Vorfeld dessen sprach ich am 7. November 2001 mit dem Autor, der im Jahr 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde.

Das Interview ist auszugsweise in der Zeitschrift LiteraturNachrichten, Nr. 72, Januar-März 2002, S. 7-8, veröffentlicht, und außerdem in meinem Buch „Wortwechsel. Gespräche mit afrikanischen Autorinnen und Autoren“ (Horlemann Verlag, 2002), S. 93-99, enthalten.

 

„Was bedeutet Fremdheit?“

Der 1948 auf Sansibar geborene Schriftsteller Abdulrazak Gurnah verließ mit knapp 18 Jahren seine Heimat, studierte in London und lehrt heute afrikanische und karibische Literatur in Großbritannien. Sein auch in deutscher Sprache veröffentlichter Roman „Das verlorene Paradies“ wurde für den Booker-Preis nominiert; außerdem erschienen von Gurnah auf Deutsch: „Donnernde Stille“ und „Ferne Gestade“.

 

Ihr großes Thema ist die Migration. Handelt auch Ihr jüngster Roman „Ferne Gestade“ davon?

Ich will Ihnen sagen, wie ich dazu kam, dieses Buch zu schreiben, was meine Ideen dafür waren. Zum einen wollte ich über Geschichte und Erinnerung schreiben – was behalten die Menschen in Erinnerung? Das Buch hat daher auch zwei Erzähler, zwei Sprecher. Einer davon lebt seit seiner Jugend, seit er 18, 19 Jahre alt ist, in England, schon seit rund 30 Jahren. Der andere ist ein Mann Mitte sechzig, ein alter Mann, der als Flüchtling ankommt, als jemand, der Asyl sucht. Ich wollte zwei Leute aus der selben Gegend haben, vielleicht sogar mit Geschichten, die zusammenhängen. Und ich wollte sehen, worüber diese beiden nun sprechen, woran sie sich erinnern, wie sie über ihre gemeinsame Heimat sprechen und darüber, Ausländer, Fremde zu sein.

Als ich den Roman schrieb, gab es in England viele Leute aus Tschechien und der Slowakei – Roma. Ich ging zu diesen Leuten, wegen einer Radiosendung, und was mich überraschte, war die Art, in der sich die Dinge wiederholen. Die Leute, die in den Dreißigern, in den Fünfzigern, in den Sechzigern kamen – sie kamen mit den immer gleichen Geschichten. Das war einer der beiden Impulse: Darüber zu schreiben, was es bedeutet, Fremder zu sein, wie man darüber spricht, wo man herkommt, wie man verschiedene Geschichten dieser Art vergleicht.

Der andere Impuls für diesen Roman entstand, als ich, um darüber nachzudenken, was und wie ich schreiben könnte, nach Sansibar, nach Tansania zurückkehrte. Als ich dort einer Unterhaltung zwischen meiner Mutter und meinen Schwestern zuhörte, sprachen sie mit Vergnügen von einem Mann, der sich Sorgen machte, dass seine beiden Töchter von einem Cousin enterbt werden könnten. Dieses Gespräch zu hören, gab mir eine Vorstellung für den anderen Teil dieses Romans, der davon handelt, was wem gehört, wie Familien, wenn Wohlstand, gar nicht mal Reichtum, nur ein bisschen Wohlstand, ins Spiel kommt, unmenschlich zueinander werden, sich in Feinde verwandeln, während sie sich sonst, unter normalen Umständen, zugetan sind und sich gegenseitig unterstützen.

Das sind also die beiden Hauptthemen des Buches: So viele von uns sind Fremde, wo auch immer wir uns befinden, und wie auch immer wir von unserer Fremdheit, unserer Entfremdung sprechen. Und es ging mir darum zu zeigen, dass einem Fremdheit auch zu Hause widerfahren kann, dass Geld dazu führen kann, dass man Flüchtling wird zu Hause.

 

Sie haben noch einen weiteren Roman geschrieben, nachdem Sie einmal in Tansania waren, nämlich „Das verlorene Paradies“ – ebenfalls ein historischer Roman. Welche Bedeutung hat Geschichte für Ihr literarisches Arbeiten?

Ich denke, dass die Gegenwart mit der Vergangenheit zusammenhängt. „Das verlorene Paradies“ war der erste Roman von mir, der zu einer Zeit spielt, in der ich nicht lebte. Es spielt zur Zeit der Kindheit meines Vaters. Geschichte ist sehr wichtig, denn wir verstehen nichts, wenn wir nicht die Dummheiten kennen, die sich vor unserer Zeit ereigneten – wir verstehen dann nicht, was wir tun. Sehr häufig wiederholt sich Geschichte ganz exakt, weil wir dem keine Beachtung schenkten, was sich vor uns ereignete. Geschichte ist sehr wichtig in einem konzeptionellen und in einem metaphorischen Sinn.

Außerdem fand ich es sehr interessant, einen historischen Roman zu schreiben, einen Roman, in dem man sich eine andere Zeit vorstellen muss, zu der man keinen Zugang hat, nicht einmal durch Archive, weil die Geschichten in den Archiven üblicherweise eher die Geschichten der Eroberer, der Sieger sind als die Geschichten der Besiegten. Natürlich habe ich diesen Roman nicht ohne Informationen geschrieben, aber es gab Lücken in diesen Unterlagen, das war sehr interessant.

Geschichte ist sehr wichtig, gerade für das Nachdenken über Kolonialismus, über seine Folgen. Nicht nur wegen der Art, mit der Europa oder der Westen Leute empfängt, die aus kolonisierten Regionen kommen, sondern auch, weil der Kolonialismus der Welt, in der wir jetzt leben, die Gestalt gab. Wenn man hört, wie über den Mittleren Osten oder über den Islam gesprochen wird, dann ist der Kolonialismus immer noch gegenwärtig in der Art, wie man über andere Menschen, über andere Kulturen denkt. Diese Art zu denken wird dominant mit der Vorrangstellung, die Europa und die westliche Welt einnehmen, und das kann man als kolonialistisch empfinde.

 

Können Sie dafür Beispiel nennen?

Die Welt wird eingeteilt in ein „Wir“ und ein „Jene“. Der Kolonialist sagt: Wir haben jene kolonisiert. Aber niemand sagt: Wir haben Norwegen kolonisiert. Was nicht bedeutet, dass Norwegen nicht auch kolonisiert wurde. Aber man ging nicht los, um konkret Norwegen zu kolonisieren, man kolonisiert „jene“, und diese Art zu denken, und das ist das Wichtige, blieb erhalten. Sie teilt die Welt in „uns“, die Zufriedenen, die Organisierten und Zivilisierten, und in „jene“, die vertrieben wurden – und die, wir wir annehmen, nicht nur vertrieben wurden, sondern die auch gefährlich sind. Diese Art zu denken ist etwas, was vom Kolonialismus blieb – was nicht heißen soll, dass der Kolonialismus nun wieder auflebt, sondern dass mit dem Kolonialismus nie vollständig Schluss gemacht wurde – weder in den Köpfen, noch in den Banken noch in den Staatskanzleien der westlichen Regierungen.

 

Die Hauptfiguren Ihrer Romane sind gewöhnlich Helden aus der Unterschicht. Kann man daraus ableiten, dass Sie Minderheiten oder Benachteiligten eine Stimme geben wollen?

Ja, natürlich. Ich meine, das ist es, was schreiben interessant macht und was, wie ich meine, die meisten Autoren zu tun versuchen: Man versucht, etwas Ungesagtes, etwas noch nie Gehörtes zu finden. Diese Vorstellung sozialer Schichten ist aber, vom Standpunkt meines Schreibens aus, nicht so rigide wie in sozial klarer gegliederten Kulturen, wie ich sie in Europa erlebe. Ich glaube, dass es sogar in den USA oder in Lateinamerika – zumindest historisch gesehen – nicht so streng zugeht wie in Europa. Also ist es vielleicht gar nicht so zutreffend, zu sagen, ich schriebe über Leute aus der Unterschicht. Ich schreibe über kleine Leute – selbst wenn sie aus privilegierten Kreisen kommen, ja, ich schreibe gern über die kleinen Leute.

 

In Ihren historischen Romanen finden sich stets Szenen der Päderastie, der Homosexualität. Beruht derlei auf Fiktion oder auf Recherche?

Nicht so sehr auf Recherche als auf der Wahrnehmung einer Dimension einer Kultur, aus der ich komme. Aber es ist oft so mit derlei Themen – als Ibsen über die Behandlung, die Misshandlung der Frauen in Norwegen schrieb, in der norwegischen Bourgeoisie, wurde das als eine Art Übertreibung angesehen. Die Wahrheit aber war, dass das auch für andere Regionen Europas zutraf, nicht nur für Norwegen. Ibsen recherchierte das nicht, er erfand es nicht und malte es sich nicht aus – er schrieb über Dinge, die er selbst kannte. Das zu akzeptieren, mag für manche Leute manchmal sehr schmerzhaft sein, besonders, wenn sie aus der beschriebenen Kultur stammen, aber es entspricht der Erfahrung dieser Kultur.

Vielleicht habe ich Unrecht mit meiner Empfindung, aber das glaube ich nicht, ich glaube, diese Erfahrung trifft zu, und zwar nicht nur für die Kultur Ostafrikas, sondern auch für viele andere Gesellschaften, die dafür in einem gewissen Sinn strukturiert sind, weil es eine strikte Trennung zwischen Männern und Frauen gibt. Je mehr man darüber liest, desto zutreffender scheint diese These für alle vergleichbaren Kulturen zu sein, nicht nur für islamische Kulturen, auch für südpazifische Kulturen, in denen es bis zu einem bestimmten Alter eine starke Trennung zwischen jungen Männern und Frauen gibt. Aber es ist schwierig, über solche Dinge etwas zu lesen zu finden.

 

„Ferne Gestade“ zitiert „By the Sea“ von Herman Melville. Wie sehr hat dieser Autor Sie beeinflusst oder inspiriert?

Ich habe Herman Melvilles Arbeiten immer sehr geschätzt, gerade „Moby Dick“, und ich liebe und bewundere sein Werk. Hier benutze ich eine Geschichte, diejenige von Bartleby, denn Bartleby ist ein Mann ist, der sich zu sprechen weigert. Er ist jemand, der andere Leute verängstigt, während er selbstzufrieden und von sich eingenommen wirkt, aber eigentlich selbst verängstigt ist. Was mich an dieser Geschichte so faszinierte, in Betracht auf meinen Roman, ist, dass er sich zu sprechen weigert – während ich jemanden beschreibe, der zu sprechen beginnt. Ich fand es interessant, dies als Version zu haben, über Fremdheit zu schreiben.

 

In Ihren Romanen finden sich immer wieder Motive des Reisens. In „Memory of Departure“ und „Pilgrims Way“ bereits im Titel, in „Das verlorene Paradies“ etwa am Beispiel der Karawane. Woher diese Art von Entwicklung in allen Ihren Büchern?

Nun, Reisen sind immer sehr interessant, sind eine nette Angelegenheit, es gibt so viele Formen des Reisens. Aber das ist auch eine Geschichte unserer Zeit. Es ist nicht so, dass die Leute vor unserer Zeit nicht auch gereist wären, aber in den vergangenen 50, 60 Jahren gab es Reisen in verschiedenste Richtungen, viele davon nach Europa, was es vorher so noch nicht gab. Es ist eine der Geschichten unserer Zeit: die Migration, vor allem von außerhalb Europas nach Europa. Was die Menschen dann vorfinden, was sie zurücklassen und was in ihren Köpfen vor sich geht. Das ist ja irgendwie auch meine eigene Erfahrung und diejenige zahlreicher anderer Autoren. Ich denke, das ist eine zentrale Erfahrung unserer Zeit.

 

Sie sprachen bereits mehrfach über Fremdheit. Ihr Roman „Donnernde Stille“ thematisiert ebenfalls die Identität eines Mannes, der in zwei Kulturen lebt. Wie formt sich Identität in dieser Veränderung?

Ja, das ist wirklich ein Kern meines Schreibens, das ist, was mich interessiert, und ich finde, ich schreibe die ganze Zeit darüber.  Dieses Motiv hat mich immer interessiert, und es findet sich auch in „Ferne Gestade“: Was bedeutet Fremdheit, wie fühlt es sich an, an einen Platz zu leben, aber von einem anderen Ort zu sein? Wenn das Gedächtnis einem anderen Ort verpflichtet ist, denn natürlich trägt man seine Vergangenheit mit sich, endet sie nicht mit einem neuen Lebensort. Dieses Thema hat so viele Dimensionen, dass ich ihm nicht entkommen kann, dass ich immer wieder zu ihm zurückkehre: zu beschreiben, ein Ausländer, ein Fremder zu sein.

 

Man sagt, Sie hätten 1968 Tansania aus politischen Gründen verlassen. Stimmt das?

Keine komplizierten Gründe: Es gab eine Revolution, einen Aufstand 1964, es war eine schwierige Zeit, viele Leute wurden verhaftet, getötet, aus dem Land gejagt. Es war ein sehr brutales Regime, das die Möglichkeiten einschränkte, über ein bestimmtes Level hinaus zu studieren. Die Schule führte nur bis zum 16. Lebensjahr, und eine Menge junger Leute – wenn man jung ist, ist man noch unerschrockener, kümmert sich um weniger um den Schaden, den man hinter sich lässt – verließen das Land, und zwar aus guten Gründen: einfach aus idealistischen Gründen. Sie wollten sich selbst verwirklichen, und ich war einer von diesen jungen Menschen, die versuchten, ‘rauszukommen. Es war nicht erlaubt, das Land zu verlassen und man riskierte, verhaftet zu werden, und wir wussten von zwei, drei dieser verhafteten Leute, die verschwunden sind, und wir wissen nicht, was mit ihnen geschah. Das andere war, dass man dann nicht wieder zurückkehren konnte. Aber nochmals: Im Alter von 18 Jahren denkt man darüber nicht nach. Das ist die Art, wie die meisten Leute damals, meiner Generation, einfach das Land verließen. Und dann, nach ein paar Wochen, beginnt man zu realisieren, was man getan hat. Aber dann gibt es neue Dinge, mit denen man konfrontiert wird und man beginnt, sich zu fragen: Wo komme ich her, was wird aus mir? Und wenn man diese Fragen durchdenkt, findet man sich verändert wieder.

 

Ich habe den Eindruck, dass die Themen Ihres Schreibens oft von Ihrer eigenen Biographie bestimmt sind. Würden Sie bestätigen, dass Ihr Schreiben in Teilen autobiografisch ist?

In Teilen ja. Aber wenn mir diese Frage jemand gestellt hätte, als ich zu schreiben begann, dann hätte ich geantwortet: Absolut nicht! Wovon sprechen Sie? Meinen Sie, ich würde allein über meine Erfahrungen schreiben? Aber Ihre Fragestellung wäre kein guter Führer durch meine Bücher, denn ich nehme mir große Freiheiten mit den Geschichten heraus – manchmal ändere ich den Schauplatz, manchmal Biografien, und so ist es nicht sehr nützlich, zu sagen, das wären alles meine Erfahrungen, selbst wenn sie es in übertragenem Sinne sind.

 

Ihr Roman „Das verlorene Paradies“ thematisiert das Problem der Kindersklaverei. Nun erhielt Kindersklaverei eine neue Aktualität. Inwiefern unterscheidet sich die traditionelle Form der Kindersklaverei von der heutigen?

Ich denke, dass der größte Unterschied darin liegt, dass die traditionelle Form so dargestellt wird, als sei sie eine zivilisiertere Form, als sei sie keine Art von Geiselhaft, als sei sie menschlicher gewesen. Heutzutage gibt es kein solches Verkleiden, kein Tarnen mehr. Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir ein, was Dickens über den Umgang mit Kindern schrieb, über Kinder, die herumgereicht wurden, als wären sie Gegenstand eines Geschäftsabschlusses gewesen. Natürlich wurde das von den Familien nie als das bezeichnet: als geschäftliche Vereinbarung; gleichwohl ging es darum, eine Schuld zu bezahlen oder dem Kind eine Chance zu geben. Ich denke, das trifft auf viele Kulturen zu – mittlerweile vielleicht nicht mehr so sehr für westliche Kulturen, weil es dort eine begrüßenswert starke Gesetzgebung gibt, die Kinder schützt. Aber sicherlich hat es im 19. Jahrhundert auch in Europa eine solche Gesetzgebung nicht gegeben, in England nicht und andernorts auch nicht.

Kinder sind verwundbar, weil sie im Besitz der Familie sind, die unter bestimmten Umständen über das Kind als Teil eines Handelsarrangements verfügen kann. Am Beispiel eines Kindes will ich ausdrücken, dass Entfremdung viele Formen annehmen kann. Kulturen können auch innerhalb einer Kultur, Frauen, Kinder können auch innerhalb ihrer Kultur Fremde sein. Fremde aber sind verwundbar und Gegenstand von Entscheidungen, die über ihre Köpfe hinweg getroffen werden – und diese Entscheidungen haben in Handelsgesellschaften einen wirtschaftlichen Kern.