02. März 2019
von Manfred Loimeier
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Harlem, New York. Zur Wiederentdeckung des literarischen Werks von James Baldwin

Wäre der US-amerikanische Schriftsteller James Baldwin im Jahr 1924 als hellhäutiger Protestant geboren worden, wäre er mit seinen Romanen, Gedichten, Theaterstücken und Essays gewiss für den Literaturnobelpreis in Betracht gekommen. Doch der Rassismus jener Zeit, der ihn im Jahr 1948 wie so viele andere US-amerikanische Autoren nach Frankreich reisen ließ, lenkte die Rezeption seines Werks vom Blick auf dessen literarische Qualitäten ab und beschränkte ihn auf die Darstellung der sogenannten Rassenfrage. Dass jetzt ausgerechnet Baldwins Roman „Beale Street Blues“ neu verfilmt wurde, ist insofern typisch – erlaubt der Roman doch aufgrund der Schilderung des Alltags eines jungen schwarzen Paars in Harlem mitsamt den „Widrigkeiten“ ihres Überlebens in einer von weißen beherrschten Welt eine politische Interpretation.

Nun ist eine solche im Werk Baldwins zweifelsohne verankert – aber eben nicht nur. Politische Autoren gab es insbesondere in der Harlem Renaissance, der New Yorker afrika-afrikanischen Künstlerszene insbesondere zwischen den beiden Weltkriegen, zu der Baldwin noch gezählt wird, zuhauf. Baldwins Freund Richard Wright etwa, der ihm den Weg zu sich nach Frankreich ebnete, analysierte in seinem Essayband „Schwarze Macht“ („Black Power“, 1956 – deutsch 1956) ebendiesen afrika-amerikanischen Alltag angesichts der Gewalt vonseiten der weißen Herrschaftsgesellschaft. Wrights Buch war es, dessen Titel der späteren US-Bürgerrechtsbewegung das Schlagwort der Black Power lieferte. Und Wright war es dann auch, der Baldwin einen Mangel an gesellschaftspolitischer Pointierung vorwarf, was seinerzeit zum Zerwürfnis der beiden Freunde beitrug. Dabei hatte Baldwin seinen ersten Essayband noch „Notes of a Native Son“ (1955) genannt, als Hommage an Wrights teilautobiografischen Roman „Native Son“ (1940).

In der Tat: Wer etwa den Roman „Giovannis Zimmer“ von Baldwin liest – zuletzt im Jahr 2015 auf Deutsch in der „Zeit“-Bibliothek der verschwundenen Bücher erschienen –, der würde die Rassenfrage darin nicht thematisiert finden. Stattdessen geht es darin um das späte Coming-out eines verheirateten jungen Mannes, der sich seiner Homosexualität bewusst wird. Dass ein afrika-amerikanischer Autor einen weißen Amerikaner zum Protagonisten seines Romans macht, war 1956, als der Roman veröffentlicht wurde, ein doppelter Skandal: einerseits ein Schwarzer, der sich anmaßt, „weiße“ Literatur zu verfassen, andererseits ein Schwarzer, der meint, Literatur ohne Bezug zur Rassenfrage schreiben zu können.

Baldwin wollte nicht aufgrund seiner Hautfarbe oder einer bestimmten Gesinnung  gelesen werden, sondern wegen der literarischen Qualität seiner Bücher. Dass er heute als frühe sozialkritische Stimme der „schwarzen“ US-Literatur wiederentdeckt wird, dürfte ihm wohl kaum behagen. Gut gefallen würde ihm dagegen, wenn endlich die formale Stärke und die besondere Ästhetik seines Schreibens anerkannt würden.

So beruht der soeben verfilmte Roman „Beale Street Blues“, wie es der deutsche Titel fast besser andeutet als das amerikanische Original „If Beale Street Could Talk“, formal auf der Musikalität des Blues. Die Beale Street in Memphis gilt als Heimat des Blues, dort spielten Louis Armstrong, B.B. King oder Muddy Waters. Und die Kapitelüberschriften des Romans zitieren weitere Bluestexte, wie sich ebenso eine Anspielung auf Aretha Franklins Hit „Respect“ findet. Der US-Romantitel wiederum, „If Beale Street Could Talk“,  verweist auf die Mündlichkeit von Baldwins Sprachstil in diesem Roman, in dem seine Hauptfiguren mit ihrem Bemühen um ein redliches Leben in der von Weißen geprägten Gesellschaft New Yorks keine Chance haben. Und dass Baldwin die beiden Protagonisten Tish und Fonny gleichstellt, indem er gleichermaßen aus der Perspektive einer Frau schreibt – auch das neu: ein Mann, der aus Sicht der Frau  schreibt -, zeugt für das psychologische Einfühlungsvermögen des Autors, dem es um die Tiefengestaltung von Charakteren geht.

So weist jedes Buch Baldwins eine Besonderheit auf. Sein Debütroman „Von dieser Welt“ („Go Tell it on the Mountain“, 1953) greift Bibelverse auf und ist im Stil einer Predigt gehalten, die von Gospelgesängen durchzogen ist. Auch dieser Roman klingt äußerst mündlich. So überrascht es nicht, dass Baldwin mit den Stücken „The Amen Corner“ (1955) und „Blues for Mister Charlie“ (1964) auch für das Theater arbeitete. Der Blues kehrt zudem in Baldwins Lyrik wieder, in seinem einzigen Gedichtband „Jimmy’s Blues. Selected Poems“ (1983), der vier Jahre vor seinem Tod in Saint-Paul-de-Vence erschien; und seine erste bedeutendere Kurzgeschichte aus dem Jahr 1948 trägt den Titel „Sonny’s Blues“.

Baldwins Bücher waren seinerzeit so gefragt, dass sie rasch nach ihrem Erscheinen auch auf Deutsch erschienen. Die beiden Romane zwischen „Giovannis Zimmer“ und „Beale Street Blues“, also „Another Country“ (1962) und „Tell Me How Long the Train’s Been Gone“ (1968), kamen bald als „Eine andere Welt“ (1965) und „Sag mir, wie lange ist der Zug schon fort“ (1969) heraus – ebenso wie Baldwins letzter Roman „Just Above My Head“ (1979), der 1981 als „Zum Greifen nah“ herauskam. Die „Neuentdeckung“ seines Werks in Deutschland ist mithin eher eine Wiederentdeckung und wirft die Frage auf, wieso es überhaupt zwischenzeitlich dem Vergessen überlassen werden konnte.

Auch Baldwins sieben Essaybände wurden zwischen den 1960er und 1980er Jahren zeitnah ins Deutsche übertragen. Dass davon nun  „The Fire Next Time“ (1962), „Nach der Flut das Feuer“, als erstes neu übersetzt wurde, ist insofern bemerkenswert, als Baldwin diesen zweiteiligen Essay als Brief an seinen Neffen verfasste und damit erneut eine besondere literarische Form für ein in der Tat politisches Anliegen fand: die Warnung vor der Gewalttätigkeit der US-Gesellschaft, in die der Hass auf Afrika-Amerikaner eingebrannt ist. Aber wie angemerkt: Auch wenn es um eine politische Botschaft geht, entwickelt Baldwin dafür eine besondere literarische Form.

Dieser Essay inspirierte den aus Kongo kommenden, in Frankreich und den USA lebenden Schriftsteller Alain Mabanckou zu seinem Baldwin gewidmeten Buch „Lettre à Jimmy“ (2007), in dem Mabanckou die Geschichte der brutalen Übergriffe auf nicht-weiße US-Amerikaner fortschreibt. Und auch der US-Journalist und Schriftsteller Ta-Nehisi Coates zitierte mit seinem Essayband „Zwischen mir und der Welt“ (2015, deutsch 2016) den Baldwin-Band, indem er dafür dessen Briefform übernahm.

Baldwin hat aber nicht nur andere Autoren inspiriert, sondern er steht auch für eine Tradition des Schreibens in den USA, der eine ebensolche Wiederentdeckung zu wünschen ist, wie sie das Werk Baldwins derzeit erfährt. Unter der Ahnengalerie an Schriftstellern, deren Einfluss auf die US-Bürgerrechtsbewegungen kaum geringer war als derjenige von Baldwin und Wright – darunter etwa Arna Wendell Bontemps, Countee Cullen, Ralph Ellison, Jessie Redmon Fauset, Langston Hughes, Zora Neale Hurston, LeRoi Jones, Claude McKay, Nella Larsen, Gil Scott-Heron, Wallace Thurman oder Dorothy West – ragten zudem bemerkenswerte Autorinnen heraus, die früh ein Phänomen thematisierten, das in Deutschland erst mit dem Roman „Der menschliche Makel“ aus dem Jahr 2000 von Philip Roth wahrgenommen wurde.

Gemeint ist das Phänomen, das im Englischen als „Passing“ bezeichnet wird und den Identitätswechsel beschreibt, mit dem sich hellhäutige Afrika-Amerikaner als weiß ausgaben. Die Harlem-Renaissance-Autorin Nella Larsen gab einem ihrer Romane gleich den Titel „Passing“ (1929), und Jessie Redmon Fauset griff zur selben Zeit in ihrem Roman „Plum Bun“ (1929) die Belastungen auf, die es mit sich brachte, mit einer quasi fremden Identität zu leben und sich notfalls von der Familie distanzieren zu müssen. Zwar liegt zumindest Larsens Roman unter dem Titel „Seitenwechsel“ (2011) auf Deutsch vor, in dem ambitionierten und preisgekrönten Zürcher Kleinverlag Dörlemann. Eine nennenswerte Neuentdeckung gerade dieser weiblichen Stimmen der Harlem-Renaissance-Literatur steht indes noch aus.

Das gilt allerdings auch für die USA selbst. Dass das Werk der in einem anonymen Grab beerdigten Zora Neale Hurston dem Vergessen entrissen wurde, ist der US-Autorin Alice Walker zu verdanken. Und dass Dorothy West noch in Ehren gehalten wird, liegt an Jackie Kennedy Onassis, mit der West befreundet war. Ansonsten tut sich das weiße Amerika schwer mit seinem schwarzen literarischen Erbe.

West erging es dabei ähnlich wie Baldwin. West wollte sich nämlich thematisch nicht auf die Klage über die Lebensbedingungen und Benachteiligungen der Afrika-Amerikaner fixieren lassen, sondern beschrieb auch das Leben der nicht-weißen Mittel- bis Oberschicht in den USA ihrer Zeit. Dass es so etwas gab und gibt, passte nicht in das Bild von verwahrlosten, bildungsfernen Afrika-Amerikanern. Wests Romane aber nötigten die weiße Elite, die Ausgrenzung sogar der arrivierten Afrika-Amerikaner zuzugeben und die Strukturen der Unterdrückung wahrzunehmen. Kein Wunder, dass diese Autorin gern vergessen wurde. Auch von ihr wurde noch kein einziges Buch ins Deutsche übersetzt. Zu wünschen wäre das aber beispielsweise für ihren Debütroman von 1948, „The Living is Easy“ – der Titel ist übrigens ironisch gemeint, der literarische Stil ist der einer Satire.