18. März 2018
von Manfred Loimeier
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Im Haus des Hungers

Simbabwe stand einst im Ruf, die Kornkammer des südlichen Afrika zu sein. In jedem Fall war das Land – und ist es vielleicht noch immer – ein sogenannter Think Tank afrikanischer Autoren und Intellektueller Und so unbequem das klingen mag: Historisch gesehen trug zu dieser Stellung als intellektueller Avantgarde einerseits die christliche Missionierung in der Siedlerkolonie Rhodesien mit einem Schulsystem bei, das eine in Afrika unvergleichbar hohe Alphabetisierungsrate erreichte. Zum anderen wirkte sich die nachkoloniale Bildungspolitik der 1980er Jahre positiv aus. Drittens, und das wiegt noch schwerer, fielen diese Saatkörner auf den fruchtbaren Boden einer sehr lebhaften und weit zurückreichenden Literaturtradition. Diese hatte sich zunächst in den Sprachen der beiden größten Volksgruppen des Landes, der Shona und der Ndebele, manifestiert.

Aus dieser Gemengelage heraus schufen die Poeten und Schriftsteller Simbabwes über Jahrzehnte hinweg eine vibrierende Literaturszene, die dann insbesondere Mitte der 1980er Jahre mit der Zimbabwe International Book Fair (ZIBF) in Harare ein weltweit viel beachtetes Forum erhielt, das mit der Buchmesse in Frankfurt am Main kooperierte. Als innerafrikanische Präsentations- und Diskussionsplattform und als internationale Drehscheibe des Buchhandels – zudem über die Grenzen des damals noch ausgeprägten Kalten Kriegs hinweg – hatte die ZIBF eine große Bedeutung und Wirkung. Zumal in jenen Jahren das südliche Nachbarland, die Republik Südafrika, von den Kämpfen gegen die Apartheidpolitik besonders absorbiert war und sich auch in den lusophonen Frontstaaten Angola und Mosambik noch gewaltbereite Bürgerkriegsparteien gegenüberstanden.

Die Augen der westlichen Leserschaft, die sich für Bücher aus Simbabwe interessiert, richten sich zunächst auf die Literatur in englischer Sprache, mit der sich die Autoren Simbabwes auch an ein Publikum im Ausland wenden. Jedoch darf nicht übersehen werden, dass bei der Frage nach Publikationsmöglichkeiten schon früh dem vorhandenen Verlagswesen eine erhebliche Rolle zukam – und das war zunächst oder zumindest überwiegend in britischer Hand. Als Autor aus Simbabwe international wahrgenommen werden zu wollen, verlangt erstens auf Englisch zu publizieren und zweitens möglichst Prosa zu veröffentlichen. Umso erstaunlicher und dabei doch auch symptomatisch ist, dass in Simbabwe der erste große Roman nach dem Zweiten Weltkrieg, „Feso“ (1957) von Solomon M. Mutswairo, auf Shona geschrieben wurde; seine volle Wirkung entfaltete er aber erst nach seiner Veröffentlichung auf Englisch, die 1980 zur gleichnamigen deutschen Übersetzung führte. Mitte der 1960er Jahre wurde „Feso“ in Rhodesien verboten, da Mutswairo darin die vorkoloniale, orale Kultur der Shona mit ihren Liedern und Erzählungen veranschaulichte. Längst ist das Buch wieder Pflichtlektüre.

Im zeitlichen Umfeld der politischen Unabhängigkeit Simbabwes mit einem staatlichen Kulturbüro, nationalen Literatur- und Kulturpreisen und der Gründung von Verlagen wie Mambo Press, Baobab Books und später Weaver Press setzte die Literaturszene in Simbabwe zu einem ersten und weithin verfolgten Höhenflug an. Charles Mungoshi brachte 1977 „Waiting for the Rain“ heraus, Dambudzo Marechera 1978 „The House of Hunger” (zu Deutsch „Haus des Hungers”, 1981), Stanley Nyamfukudza 1980 „The Non-Believers Journey” und Shimmer Chinodya 1982 „Dew in the Morning“. Alle diese Romane prägte eine ausgesprochen deutliche formale Experimentierlust. Mungoshi kontrastierte in einer Art Bewusstseinsstrom das Leben auf dem Land und in Übersee, er durchsetzte seine Sprache mit Shona-Redewendungen und Liedtexten. Marechera puzzelte aus zeitlich versetzt und sich überlagernden Erzählungen einen Roman zusammen, der das Mosaik einer Kindheit zur Kolonialzeit abbildete. Nyamfukudza schilderte das dörfliche Leben, indem die Protagonisten – wie in William Faulkners „Als ich im Sterben lag“ – in einem Erzählreigen reihum auftraten und die Fragmente der Romanhandlung zusammentrugen. Chinodya wiederum legte sein Buch als Parabel an, denn der Morgentau, von dem der Buchtitel spricht, stand für die ersten Jahre des unabhängig gewordenen Simbabwe.

Mit der nachfolgenden Generation, darunter Chenjerai Hove und Tsitsi Dangarembga, meldeten sich zunehmend Frauen zu Wort. Und auch Hove versuchte, in seinen stilistisch äußerst fein ziselierten Büchern, in denen der Handlungsverlauf oftmals nur zu erahnen ist, den Vergessenen und den Frauen eine Stimme zu geben. Zudem verlieh er den Schrecken beider Kriege – des Unabhängigkeitskriegs und des folgenden Bürgerkriegs im Matabeleland Anfang der 1980er Jahre – Ausdruck. Dafür entwickelte Hove in den Romanen „Bones“ (1988) („Knochen“, 2000), „Shadows“ (1991) („Schattenlicht“, 1996) und „Ancestors“ (1996) („Ahnenträume“, 2000) eine äußerst metaphorische Sprache, die es erlaubte, die inoffizielle Geschichte sowie die selten gehörten Stimmen der Kriegsopfer fiktiv zu rekonstruieren. Dangarembga hingegen beschrieb in ihrem zum Klassiker gewordenen Roman „Nervous Conditions“ (1988) („Der Preis der Freiheit“, 1999) ergreifend realistisch das Bildungsstreben eines Mädchens, das sich langfristig und mühselig, hartnäckig und ausdauernd gegen die patriarchale Gesellschaft durchsetzt und dafür einen zumindest emotional hohen Preis zahlen muss.

Hove setzte durch seine poetische Sprache höchste literarische Ansprüche, die als nächstes Yvonne Vera zu erfüllen suchte und dabei zum Teil sogar übertraf. Widmete sie sich in „Nehanda“ („Nehanda“, 2000) noch den Fakten des ersten Chimurenga, des Befreiungskampfs gegen die britischen Kolonialisten gegen Ende des 19. Jahrhunderts, schilderte sie in „Under the Tongue“ (1996) und „Stone Virgins“ (2002) in einem weniger realistischen, stattdessen metaphorisch geprägten Stil Frauenschicksale. In „Butterfly Burning“ (1998) („Schmetterling in Flammen“ 2001) rekonstruierte sie ähnlich wie Hove ein Stück simbabwischer Historie und ergänzte fiktional die reale Geschichtsschreibung. Gerade ihr jüngster und letzter Roman „Stone Virgins“ spielte formal mit Metaphern und einer sich spiegelnden Handlung. Dieser Roman belegte eindrucksvoll, dass Prosa aus Simbabwe nicht allein ihrer Thematik wegen einzigartig ist, sondern vielmehr aufgrund der Vielfalt und Besonderheiten der Erzählstile.

Dafür gibt es gerade bei den neueren Publikationen zahlreiche Beispiele, zumal viele Arbeiten, sofern sie von den zumeist nach Großbritannien ausgewanderten Autoren verfasst wurden, vom kulturellen Zusammenspiel der literarischen Stimmen künden. Tendai Huchus „The Hairdresser of Harare“ (2010) („Der Friseur von Harare“, 2011) kann als politischer Roman gelesen werden. Er bringt zugleich die Realität von Homosexuellen zum Ausdruck, wie sie die offizielle Doktrin des Präsidenten Robert Mugabe leugnet und die er dennoch schon während der internationalen Buchmesse 1995 in Harare scharf angriff. Die ZIBF hat dadurch dramatisch an internationaler Bedeutung verloren, wurde aber durch andere lokale oder regionale Kulturzentren zeitweilig zumindest annähernd ersetzt. Einerseits ist es das Book Café in Harare, das unbestritten der Treffpunkt für Autoren, Musiker und Poetry Performer wie Chirikure Chirikure wurde, andererseits das HIFA (Harare International Festival of Arts). Es bietet überdies Tanz, Performance, Theater und Spoken Word Poetry von Darstellern aus dem gesamten südlicheren Afrika. Aber auch dessen Organisatoren, die immer ein gesellschaftspolitisches Motto ausgeben, müssen mit den politischen Machthabern lavieren.

Dagegen beschreiben jüngere Autoren die Realität Simbabwes ungeschminkt. Virginia Phiri berichtet in „Highway Queen“ (2010) über Prostitution. Christopher Mlalazi schildert in „Many Rivers“ (2009) die Enttäuschungen, die Menschen in Simbabwe tagtäglich aufgrund des wirtschaftlichen und demokratischen Niedergangs erleben. Petina Gappah widmet sich in ihren Kurzgeschichten „An Elegy for Easterly“ (2009) dem Alltag der Frauen. Valerie Tagwira wagt in „The Uncertainty of Hope“ (2007) nicht von einer besseren Zukunft zu träumen. Wonder Guchu entlarvt in „Sketches of High Density Life“ (2005) am Beispiel Harares den Mythos der Großstadt. Währenddessen thematisiert der in London lebende Brian Chikwava in seinem Debütroman „Harare North“ (2009) das Schicksal der Simbabwe-Exilanten und macht die britische Metropole damit zum nördlichsten Stadtteil der Hauptstadt Simbabwes.

Nicht zu vergessen sind schließlich die ins Exil gegangenen Nachfahren europäischer Einwanderer, die in meist autobiografisch angehauchten Romanen von der Sehnsucht nach ihrer Heimat Simbabwe schreiben oder das Mugabe-Regime kritisieren. George Makana Clark und John Eppel gehören zu denen, die die Realität Simbabwes parodierend darstellen: Clark mit „The Raw Man“ (2011), Eppel mit seinem Roman „Absent: The English Teacher“ (2009). Demgegenüber hängt Bryony Rheam in „This September Sun“ (2009) ihrer Familiengeschichte in Simbabwe melancholisch nach.

Und bei all dem gilt unverändert, dass Erzähler aus Simbabwe immer großen Wert auf die Form des Erzählens legen. Pauline Henson bedient mit „Case Closed“ (2004) das Genre des Kriminalromans. Masimba Musodza hat in seiner Krimireihe der „Case Files of the Dread Eye Detective Agency“ mit dem Band „Uriah’s Vengeance“ (2009) ein Buch veröffentlicht, das nur als brillant durchgeknallt bezeichnet werden kann und vom Reggae der Rastafari-Szene durchdrungen ist. Mystery, Satire, Horror und Science Fiction sind Elemente seiner Trash- und Splatter-Literatur, in der die Sprache der Protagonisten überdies von Soziolekt, Dialekt und dem Shona Musodzas gefärbt ist. Auch Musodza lebt indes in England, wohingegen Chirikure Chirikure („Aussicht auf eigene Schatten“, 2011) und Christopher Mlalazi („Wegrennen mit Mutter“, 2013) derzeit in Deutschland schreiben und eine Rückkehr nach Simbabwe vermeiden. Hierzulande arbeiten sie an neuen Büchern, die von einer globalisierten Literatur und Simbabwes Anteil darin künden.