28. November 2021
von Manfred Loimeier
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Interview mit Abdulrazak Gurnah, 2016

Im Rahmen der Internationalen Literaturtage 2016 in  Frankfurt am Main sprach ich ein weiteres Mal mit dem Schriftsteller Abdulrazak Gurnah. Damals stand gerade die Veröffentlichung von Gurnahs Roman „Gravel Heart“ bevor, der dann 2017 herauskam,

 

Herr Gurnah, was den Schauplatz Ihrer Romane angeht, ist Ihnen die Region um den Indischen Ozean sehr wichtig. Haben Sie den Eindruck, dass diese Region heutzutage mehr denn je vernachlässigt wird?

Warum ich mich für die Region des Indischen Ozeans interessiere, rührt natürlich daher, dass ich von dort komme, eine persönliche Verbundenheit damit habe. Aber es gibt auch ein intellektuelles, poetisches Interesse daran, als einer Idee. Denn es gibt diese Kulturen entlang der Küsten des Indischen Ozeans, die Hunderte von Jahren des Kommens und Gehens zwischen ihnen erlebten und sich gegenseitig beeinflussten. Und es scheint mir, dass das außerhalb dieser Kulturen in dieser Form noch nicht richtig verstanden wurde, auch nicht – ich spreche nicht nur vom Westen – in Regionen Afrikas oder Asiens. Es gibt eine Art Kultur der Küsten dieses Ozeans, die eine gewisse Kontinuität aufweist. Wenn Sie sich einen Moment die Küste Ostafrikas als westliche Küste des Indischen Ozean vorstellen, dann erkennen Sie eine andere Art der Beziehung. Sie fragen sich, wo ist denn der östliche Indische Ozean, was haben denn die Menschen miteinander zu tun? Es gab einen Austausch von Gütern, Geschichten, Erzählungen – und das ist es, was mich interessiert.

 

Sie schreiben über Verlust und Sehnsucht. Sehen Sie denn Chancen, dass Ihre Protagonisten in einer neuen Welt, einer neuen Kultur ankommen können?

In einer gewissen Weise schon. Mich interessiert der Prozess, von hier nach dort zu gehen. Sehr oft schreibe ich über Menschen, die bereits ein Problem an einen neuen Ort mitbringen. Und das Aufbrechen, das Losgehen, das Zurücklassen ist immer auch Verlust. Man verliert etwas, aber man vermeidet auch etwas, flieht vor etwas – das erzeugt immer ein Gefühl von Schuld, davon, etwas falsch gemacht zu machen. Und der Ort, an dem man ankommt – gewöhnlich von irgendwo kommend im Westen –, wird Sie heutzutage wahrscheinlich nicht willkommen heißen. Es kommt also auch noch Feindseligkeit hinzu. Man kann nicht ankommen, indem man das alles ignoriert. Man kann erst ankommen, wenn die Gastgebergesellschaft so vielgestaltig ist, Sie willkommen zu heißen. Und das liegt nicht in Ihrem Einflussbereich. Letztlich können Sie nur erreichen, dass es einen Spannungsraum gibt, der es Ihnen ermöglicht, in Würde – oder vielleicht auch ohne – weiterzuleben.

Wenn Sie an Ihr erstes Buch, „Memory of Departure“, und an Ihr jüngstes denken – wie hat sich Ihr Thema der Migration und Akzeptanz verändert?

Eine große Veränderung ergab sich für mich dadurch, dass ich wieder nach Tansania zurückkehren konnte. Das war viele Jahre nicht möglich, aber 1994 gab es eine Amnestie, die es den Menschen, die aus denselben Gründen wie ich fortgegangen waren, erlaubte, zurückzukehren. Davor hatte ich mich bereits damit abgefunden, den Rest meines Lebens in England zu verbringen. Ich hatte eine Familie in England, ich lebte dort, ich begann das Land zu verstehen – oder vielmehr die Umstände, unter denen Menschen wie ich dort leben. Als ich 1994 nach Sansibar fuhr und wieder zurückgekehrt war, begann ich, „Das verlorene Paradies“ zu schreiben. Ich hatte zuvor schon daran gedacht, aber nun wurde vieles klarer. Ich schrieb den Roman und fuhr hin und her. Und das änderte mein Schreiben, indem ich Dinge besser verstand – ich war 17einhalb, als ich fortging, und 40, als ich zurückkam: Ich sah Dinge anders. Und deshalb, denke ich, wurde mein Schreiben freundlicher gegenüber Aspekten, die ich zuvor kritischer gesehen hatte. Und ich denke, das Alter lässt mich auch Trauer anders, besser verstehen. Also weniger Urteile, mehr Sympathie. Und ich glaube auch, dass ich mehr über ältere Menschen schreibe. Man stellt sich seine Figuren meist jünger vor, und man stellt sich jemanden in einem Dilemma nicht als alte Person vor. Das kam mir bei dem Roman „By the Sea“ („Ferne Gestade“) in den Sinn, als ich über jemanden schrieb, von dem niemand viel erwartete. Ich denke, das hat sich geändert: ein besseres Verständnis für Zusammenhänge, das es mir erlaubt, gleichermaßen über hier wie dort zu schreiben – anders als in „Pilgrim’s Way“ („Schwarz auf weiß“) , worin es um Erfahrungen in England geht, darüber, in England zu sein und von Erinnerungen geplagt zu werden. Jetzt geht es mir mehr darum, beides zu zeigen. Ebenso hat sich das Tempo, in dem ich schreibe, verändert. Meines Erachtens schreibe ich detaillierter, aber auch zurückhaltender, leiser im Tonfall.

 

Das führt mich zu meiner nächsten Frage, denn die Atmosphäre in Ihren Büchern ist einerseits melancholisch, traurig, wehmütig und andererseits voller Humor und Ironie. Wie bekommen Sie das hin, wie machen Sie das?

Ich mag Melancholie! Und ich denke, es liegt etwas Wahrhaftes darin. Es ist nicht so, dass ich Komödien oder gute Fußballspiele nicht mag, aber es scheint mir, dass die wahrhaftigsten Dinge uns oft melancholisch machen. Aber ich will natürlich auch über Schönheit schreiben – und zwar nicht im Sinne eines Katalogs von Schönem. Und Komik kommt hinzu, weil die Leben, die wir leben, mitunter genauso zum Lachen sind, etwas Lächerliches an sich haben, wie sie uns wehmütig stimmen können. Das hängt davon ab, wie wir damit umgehen. Selbst in einem schmerzvollen Augenblick kommt man sich manchmal komisch vor und schützt sich damit davor, zu verzweifeln – man nimmt sich damit nicht so furchtbar wichtig, macht das Drama kleiner. Das ist wahrscheinlich die Wirkung, die ich zu erzielen versuche.

 

Ihr Schreiben weist Spuren auf von Herman Melville – gibt es weitere Autoren, die Sie inspirierten oder denen Sie sich – durch das Motiv der See – verbunden fühlen?

Ja, auf vielfältige Weise, aber es ist nicht so, dass diese Einflüsse maßgeblich sind. Es sind Vorlieben. Ich lese gern Joseph Conrad, und ich bewundere aus vielen Gründen das Werk von J.M. Coetzee – ich lese viel und kann nicht genau festmachen, was davon was auslöst. Ich lese viel, und alles ist nützlich, aber ich denke nicht, dass ich eine Liste aufstellen kann. Ich bewundere viele Autoren, aber ich weiß nicht, ob ich schreiben wollte wie sie.

 

Halten Sie die Theorie von Zentrum und Peripherie in dieser Zeit der Globalisierung noch für sinnvoll?

Ich denke nicht, dass diese Theorie hilfreich ist. Was mich mehr interessiert, ist das, was im Westen – oder im Norden, wo auch immer man das verorten mag – als Globalisierung bezeichnet wird und sich seither als Begriff verbreitet hat. Globalisierung ist in meinen Augen die Ausbreitung des westlichen Einflusses auf die Welt, der unaufhaltsam zu sein scheint, vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen. Ich meine indes, dass man nichts verstehen kann, wenn man auf diese Weise die Welt betrachtet. Wenn man beispiesweise meine Idee vom Indischen Ozean nicht versteht, die ein kosmopolitisches Konzept darstellt, das unbekümmert vom Westen besteht, dann versteht man nicht, was in der Welt los ist – und vielleicht will man das auch gar nicht verstehen. Ob China, Pakistan oder Afghanistan, das sind Regionen, die ihren eigenen Mittelpunkt haben und andere als Peripherie sehen, und so gibt es nicht nur ein einziges Zentrum der Welt, sondern zahlreiche Zentren und Randbezirke des Weltgeschehens.