01. September 2023
von Manfred Loimeier
0 Kommentare

Mohamed Mbougar Sarr stellt seinen neuen Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ vor

Autorinnen und Autoren aus Afrika werden bei Lesungen oftmals gefragt, ob sie sich – da sie meist in Frankreich, Großbritannien oder den USA leben – überhaupt als afrikanische Literaten verstehen. Was diese Frage bedeute, erwidern manche der Autoren dann gern, generell afrikanische Literatur gebe es sowieso nicht und die Frage sei geradezu rassistisch, denn Schriftsteller aus dem arabischen Raum oder aus Lateinamerika, die ebenfalls gern in Paris oder Madrid leben, würden nichts dergleichen gefragt.
Als im Jahr 1968 unter dem Namen Yambo Ouologuem der Roman „Das Gebot der Gewalt“ erschien, bejubelte die Literaturkritik dieses Buch und verlieh ihm den Prix Renaudot. Die Rezensenten gingen beim Autorennamen von einem Pseudonym aus, denn sie bezweifelten, ein Afrikaner könne so ein Buch geschrieben haben.
Anspielungen und Bezüge
Als sich zeigte, dass der belesene Autor mit literarischen Anspielungen, Querverweisen, Zitaten und Textversatzstücken etwa von Graham Greene, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant, Tacitus oder aus der Bibel arbeitete, und dass er zudem europäische Ethnologen wie den Deutschen Leo Frobenius karikierte, wurde dem in Paris lebenden, in Mali gebürtigen Schriftsteller Ouologuem vorgeworfen, ein Plagiator zu sein.
Verspielte Souveränität im Umgang mit Weltliteratur wurde Ouologuem nicht zugestanden. Der folgende Literaturskandal – der Verlag nahm den Titel aus dem Handel, der Autor zog sich nach Mali zurück – ist unvergessen, noch 2008 erschien in den USA ein „Yambo Ouologuem Reader“.
Anspruch auf Weltliteratur
Um diesen Skandal dreht sich die Handlung in Mohamed Mbougar Sarrs im Vorjahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“. Es ist ein – Yambo Ouologuem gewidmeter – Roman über die Bedeutung von Literatur, der sich wie „Das Gebot der Gewalt“ mit zahlreichen Bezügen in die Weltliteratur einreiht.
Sarr spielt mit der Namensgebung seiner Figuren – Bercoff, Bollème, Engelmann, Jacob, Lamiel, Maximin, Nanga – auf einen französischen Autor, eine Flaubert-Expertin, einen deutschen Verleger, eine deutsche Slawistin und eine im KZ Riga ermordete Jüdin, einen Roman Stendhals, einen Musiker und eine kamerunische Textildesignerin an.
Im Namen der Hauptfigur, des jungen Möchtegernliteraten Diégane Latyr Faye verstecken sich Anspielungen auf den in Westafrika berühmten Film „Mossane“ – so heißt auch eine der weiblichen Hauptfiguren in der verschachtelten Geschichte des Romans „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ –, gedreht 1996 von Safi Faye mit einem Diogoye als Gegenspieler Mossanes.
Sarrs Frage ist nach wie vor: Wann wird ein Autor aus Afrika als gleichberechtigte maßgebliche literarische Stimme gehört, wie weit muss er sich europäisieren, wie sehr muss er sich entafrikanisieren, um ernstgenommen zu werden, wie afrikanisch muss er bleiben, um Exotismuserwartungen und Voyeurismus zu bedienen?
Sarr webt die Handlung um die Suche nach dem verschollenen Exemplar des umstrittenen Romans von Autor Elimane Madag Diouf – der sich mit kompatiblerem Pseudonym für die europäische Leserschaft T.C. Elimane nennt –, in ein engmaschiges Sicherheitsnetz, das sich auf Karl Jaspers Philosophie und die Fantastik von Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares, Julio Cortázar und Ernesto Sabato oder die komische Tragik im Werk von Witold Gombrowicz bezieht.
Werk zu entdecken
Lieferte der italienische Autor Italo Calvino mit dem Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ 1979 einen Streifzug durch die Stile und Genre der Weltliteratur, liefert der senegalesische Autor Sarr mit seinem Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ eine labyrinthische Suche nach der Wirkung von Literatur. Die Handlung steht dabei eher im Hintergrund, sie ist nur der Schlüssel in die fantastische Dimension der Weltliteratur.
Und vielleicht trägt Sarrs Buch dazu bei, nach der Neuedition des Romans „Das Gebot der Gewalt“ 2019 im Zürcher Elster-Verlag nun auch die weiteren Bücher des 2017 in Mali gestorbenen und als äußerst witzig geschilderten Ouologuem zu veröffentlichen: den kolonialismuskritischen Essay „Lettres à la France nègre“, das erotische Märchenbuch „Les Milles et Une Bibles de Sexe“ oder die beiden Liebesromane „Le secret des orchidées“ und „Les Moissons de l’amour“.