11. Januar 2023
von Manfred Loimeier
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NoViolet Bulawayo im Interview

Im Juli 2015 sprach NoViolet Bulawayo anlässlich der Nominierung ihres Romans „Wir brauchen neue Namen“ für den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin mit Manfred Loimeier.

 

ML: Nach 13 Jahren Abwesenheit kamen Sie 2013 erstmals wieder nach Simbabwe. Was fühlten Sie bei der Rückkehr?

NB: Meine Rückkehr war sehr ergreifend, insbesondere weil ich erwartet hatte, das Land so vorzufinden, wie ich es 1999 verlassen hatte. Selbstverständlich war es inzwischen ein völlig anderes Land geworden, ich konnte es kaum wiedererkennen. Das Land erholte sich gerade von seiner Krise, und der Alltag hatte sich weitgehend normalisiert. Aber es war inzwischen sehr heruntergekommen, viele Freunde und Familienmitglieder waren ins Ausland gegangen – auf der Suche nach blühenden Landschaften. Mit am frustrierendsten und auch verwirrendsten war es, so viel Polizei auf den Straßen zu sehen, die die Autofahrer schikanierte und erpresste. Es stimmt, dass die Polizisten Bestechungsgelder nahmen. Jeder versuchte, auf seine Weise zu überleben. Es gab Stromausfälle, Ausfälle bei der Wasserversorgung, und der Lebensstandard war sehr gesunken, Gesundheitssystem und Erziehungswesen waren zum Erliegen gekommen. Dass ich während dieses Verfalls nicht im Land gewesen war und ich ihn in seinem Verlauf nicht miterlebt hatte, machte den Kontrast noch schlimmer. Doch während meiner danach folgenden Reisen nach Simbabwe bin ich langsam wieder vertrauter mit meiner Familie geworden, und es ist interessant zu sehen, dass die Dinge nun weniger befremdlich wirken als damals. Ich sehe natürlich auch, dass ich mich geändert habe, allein durch die Tatsache, außerhalb des Landes gelebt zu haben. Ich bin nicht mehr die selbe Person, die ich vorher war. Und mitunter habe ich Auseinandersetzungen mit Freunden und der Familie, denn meine und deren Ansichten haben sich geändert, so wie sich die Lebensgrundlagen in diesem Land geändert haben. Für mich ist es aber wichtig, meine Identität zu behaupten und Räume für mich zu beanspruchen.

 

ML: Inwiefern hat sich Ihre Identität, haben Sie sich verändert – sofern Sie das so konkret festmachen können?

NB: Jeder Mensch wird von dem Raum verändert, in dem er lebt. Das zeigt sich schon darin, wie man die Entwicklungsprozesse des Landes beurteilt, in dem man lebt. Die Menschen in Simbabwe, die zuletzt noch versucht hatten, die Regierung aus dem Amt zu wählen, versuchen nur noch, von Tag zu Tag ihr Auskommen zu finden. Ich hingegen lebe in den USA in einer Demokratie, die halbwegs funktioniert, und ich bin der Meinung, dass wir in Simbabwe mehr erreichen, mehr zustande bringen könnten. Aber die Menschen zu Hause sind nur noch daran interessiert, wie sie überleben können. Und eine Menge Leute sind gegangen, aber viele sind auch zurückgekommen. Ich denke, das hilft, denn das bringt neue Ideen und Perspektiven, was sich hoffentlich bezahlt machen wird.

 

ML: Sie gingen 1999 in die USA, um zu studieren. Wie kam es, dass Sie zu schreiben begannen?

NB: Ich kam im Dezember 1999 dorthin, um Jura zu studieren, und zu meinem Studienplan gehörte auch ein Kurs in Schreiben. So, warum habe ich mich für Kreatives Schreiben am Kalamazoo Valley College in Michigan entschieden? Ich mochte Erzählen und Schreiben sehr, und ich fühlte mich in diesem Kurs sehr zu Hause. Und so habe ich in den folgenden Jahren immer einen solchen Kurs belegt, und irgendwann habe ich für mich beschlossen, dass es das ist, wofür ich geschaffen wurde. Ich habe also Jura bleiben lassen, machte meinen Master in Fine Arts und fand mich als Schriftstellerin wieder.

 

Sie begannen also in den USA zu schreiben?

Ja, ich fing in den USA an, ernstzunehmend zu schreiben. Ich frage mich manchmal, wie es gewesen wäre, wenn ich dieselben Möglichkeiten in Simbabwe gehabt hätte, und ich denke, ich hätte ebenso zu schreiben begonnen. Das Problem ist, dass ich zu Hause nicht die Möglichkeit hatte, in dem Maße Schreibkurse zu belegen, wie es in den USA möglich war. Aber ich hatte mit Erzählern zu tun, meinem Vater und meiner Großmutter, und als Erzähler haben sie mich beeinflusst und meine Imagination angeregt. Damit haben sie zu einem wesentlichen Teil zu meiner Entwicklung als Autorin beigetragen, selbst wenn mir das damals noch nicht bewusst war, weil ich noch nicht vorhatte, Schriftstellerin zu werden. Aber im Rückblick gesehen wurden damals die Samen gesetzt, und ich denke nicht, dass ich in den USA ohne diesen Hintergrund zu schreiben begonnen hätte.

 

ML: Was brachte Sie eigentlich dazu, einen Künstlernamen anzunehmen?

NB: Nun, mein Künstlername ist sehr persönlich, sehr intim, denn er kommt aus einem sehr persönlichen Bereich. Ich habe mir den Namen ausgewählt, um mich sozusagen von meinen eigenen Dämonen zu befreien – und das hat auch geholfen. Ich hatte die meiste Zeit keine besondere Beziehung zu meinem offiziellen Namen, und dazu kommt, dass ich aus einer Gesellschaft komme, die großzügig mit Namen umgeht. Meinen offiziellen Namen verwendete ich nur in der Schule, sonst hatte ich Ruf- und Spitznamen von meinen Freunden, und so hatte ich eine gewisse Distanz zu meinem offiziellen Namen. Als ich mich für einen Künstlernamen entschied, war ich natürlich in einer Phase, in der ich darüber nachdachte, wer ich sei und was meine Identität sei. Und ein Teil meines Ichs sprach auf verschiedene Weisen zu mir, und darunter war der Name, der mit meiner Mutter verbunden ist, und deren Abwesenheit mich durch meine Kindheit und Jugend hindurch verfolgt hatte – auf eine besondere, traumatisierende Weise. Das war ein Name, der es mir ermöglichte, meine Mutter  gewissermaßen zu ehren und sie bei ihrem Namen zu rufen, der lange Zeit unausgesprochen geblieben war. Und mein zweiter Name ist natürlich der Name der Stadt meines Volkes, der es mir in den USA ermöglichte, mich mit meinem Zuhause verbunden zu fühlen, denn ich kam mir sehr abgeschnitten davon vor. So aber trage ich die Stadt immer mit mehr, egal, wohin ich gehe.

 

ML: In Ihrem Roman sprechen Sie von Armut und Korruption, und diese negative Darstellung hat vor allem den nigerianischen Schriftsteller Helon Habila zu der Kritik veranlasst, Sie verbreiteten das übliche Negativbild von Afrika. Was sagen Sie dazu?

NB: Ich denke, die Kritik ist unsinnig und kommt vor allen Dingen von Kritikern, die sich nicht bemühten, zu fragen, aus welchem Kontext diese Darstellungen kommen. Kein normaler Mensch hat die betreffende Dekade in der Geschichte Simbabwes ohne diese genannten Probleme beschrieben – denn genau das passierte tatsächlich. Als Autorin will ich über das schreiben, was mich bewegt, was mich berührt. Und auf dem Höhepunkt der Krise, in den Jahren Jahr 2008 bis 2010, waren das die drängenden Probleme. Jeder, der damals eine Familie dort hatte, bekam nahezu täglich Anrufe mit der Bitte um Geld, damit die Leute überleben könnten, oder Anrufe, wie man aus dem Land kommen könne – und das war auch die Zeit, zu der die Simbabwer mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gingen. Das ist deshalb interessant, weil ich „Wir brauchen neue Namen“ zu einer Zeit schrieb, als gerade die Sozialen Medien groß herauskamen, und für meine Recherchen musste ich nur auf Facebook gehen und schauen, was ich dort an Informationen und Schilderungen finden konnte. Mich stören diese Kritiken nicht, aber ich ermutige die Menschen, tiefer unter die Oberfläche zu schauen. Zwar geht es in meinem Roman auch um Armut, Korruption und Tuberkulose, aber die Figuren zeichnet darüber hinaus noch mehr aus, worüber gesprochen werden kann: die Art der Gestaltung, der Sprache, der Ästhetik.

 

ML: Sie kritisieren nicht nur die Korruption in Simbabwe, sondern auch den Materialismus in den USA und vertreten dabei einen humanistischen Standpunkt. Wie ist es möglich, beides zu verbinden: Wohlstand und Reichtum zu erlangen und dabei doch Menschlichkeit zu zeigen?

NB: Humanistische Werte können immer aufrechterhalten werden, solange wir daran interessiert sind. Unglücklicherweise leben wir in Gesellschaften, die das Gegenteil fördern – es gibt beispielsweise keinerlei Rechtfertigung dafür, dass ein nur geringer Bevölkerungsanteil über den meisten Reichtum verfügt. Es gibt keinen Grund dafür, warum manche Millionen machen und andere, Arme, Arbeiter, zu niedrigeren Löhnen arbeiten müssen und von der Hand in den Mund leben. Darüber kann man nicht hinwegsehen – und manchmal gibt es diese schönen Geschichten wie von dem Mann, ich habe seinen Namen vergessen, der sein Vermögen dazu nutzte, die Kinder seiner Arbeiter auf die Hochschule zu schicken. Das ist eine Art Vermögensrückerstattung, wie es sein sollte. Was ich aber sagen will: Wir sind nicht hartnäckig genug, und es gelingt uns nicht, die Gesellschaften nach den Prinzipien umzugestalten, die eigentlich zählen.

 

ML: Stimmt es, wenn ich davon ausgehe, dass der Name „Paradise“ doppeldeutig gemeint ist? Einerseits als ironische Bezeichnung für das gar nicht paradiesische Viertel, das andererseits aber doch manchmal wie ein Paradies erscheint?

NB: Nein, ich meinte das wirklich ironisch. Freundschaften kann es unter allen Umständen geben, und die Freundschaften zwischen Darling und ihren Freunden entstehen nicht wegen des Ortes, sondern trotz des Ortes. Mich interessierte, wie diese Jugendlichen gezwungen wurden, wegzugehen.

 

ML: Ihr Roman ist auch von einem starken Sinn für Humor geprägt. Wie ist es möglich, ein derart heftiges Thema so humorvoll zu gestalten?

NB: Ich finde, Humor ist etwas sehr Menschliches. Um auf die Frage nach Humanität zurückzukommen: Haben wir die Wahl, sie zu verlieren? Selbst wenn wir alles andere verlieren? Selbst an einem Ort wie „Paradise“, wo die Leute verstört sind und ein trostloses Leben führen, ist es ihnen möglich, das Eine aufrechtzuerhalten, das ihnen vom Kollaps des Systems um sie herum nicht genommen werden kann. Das ist mir wichtig, weil es zeigt, dass nicht alles verloren ist. Es gibt mehr, was Menschen ausmacht: Humor, Geist, Mut. Mir war klar, dass das Buch möglicherweise hart zu lesen sein würde, da es düster ist. Humor war eine Möglichkeit, die Leser bei der Lektüre zu  halten und sie nicht mit den Tragödien im Roman zu erschlagen.

 

ML: Zur Sprache: Sie integrieren die südafrikanische Sprache Ndebele, nutzen Soziolekte und Jugendsprache. Wie gehen Sie dabei vor?

NB: Es war gar nicht so schwer, diese Sprache zu finden. Ich musste nur an die Sprache meines Volkes und meiner Jugend denken und sie zum Klingen, zum Funkeln, ihre Farben, Eigenheiten und Energie zum Vorschein bringen. Ich war von ihrem Reichtum fasziniert, was vielleicht daher rührt, dass sie aus einer sehr oralen Kultur kommt, in der Sprache mehr zu sein hat als ein Verständigungsmittel. Sprache muss vielseitig gekleidet sein, wie ich es in meiner Jugend angesichts der verschiedenen Geschichtenerzähler zu erleben das Glück hatte. Als es dann darum ging, einen Roman zu schreiben, beziehungsweise überhaupt zu schreiben, wurde mir klar, dass mir mein Sprachsystem mehr bot, als mir die englische Sprache bieten zu können schien. Vielleicht war ich keine gute Schülerin in Englisch, aber wenn ich das Englisch der englischen Romane las, die ich sehr liebte, dann hatte ich den Eindruck, dass es nicht den selben Klang hatte wie meine eigene Sprache. Ich weiß noch, wie ich in die USA kam und Autoren wie Sandra Cisneros oder Junot Díaz las, die Sprache auf eine Weise feierten, wie ich es aus meiner eigenen Kultur kannte – und von diesen Autoren bezog ich die Lizenz, mit Sprache zu spielen. Und glücklicherweise brachte diese Heirat zwischen Englisch und Ndebele eine Sprache hervor und füllte sie mit Leben, die es mir erlaubte, meine Geschichte zu erzählen.

 

ML: Sie unterrichten Kreatives Schreiben. Lehren Sie dort auch kreativen Umgang mit Sprache oder geht es dabei eher darum, wie Geschichten entwickelt werden?

NB: Ich konzentriere mich überwiegend auf das grundsätzlich Handwerkliche. Aber ich gebe meinen Studierenden die Möglichkeit, die Art von Literatur zu lesen, die mit Sprache spielt, was meines Erachtens für die Studierenden nötig und befreiend ist. Und natürlich müssen sie herausfinden, was sie anspricht.

 

ML: Sie schreiben auch Theaterstücke. Worum geht es da?

NB: Das ist nicht ganz ernst zu nehmen – aber es wird es. Zum Teil ging es darum, eine Pause vom Prosaschreiben zu machen in der Hoffnung, meine Batterien wieder aufzuladen. Aber ja, mich interessiert es, für das Theater zu schreiben – und auch für das Fernsehen.

 

ML: Sie arbeiten derzeit an einer Kurzgeschichtensammlung zum Thema HIV. Richtig? Sie haben selbst einen Bruder und eine Schwester wegen Aids verloren …

NB: Ich habe das Projekt zurückgestellt. Ich habe mir die Geschichten der vergangenen beiden Jahre angesehen und sie dann beiseitegelegt. Sie laufen mir nicht weg. Es ist ein herausforderndes Thema, in dem Sinne, dass es überall um uns herum zugegen ist und auch darüber geschrieben werden muss. Aber die Gesellschaft verändert sich. Als mein Bruder starb, hatten wir keine Ahnung davon, dass er HIV-positiv war. Ich war damals 14, 15 Jahre alt, und die Krankheit war von einem großen Schweigen umgeben. Im Vergleich dazu haben die Menschen heute Zugang zu Medikamenten, was er damals nicht hatte, und die betroffenen Menschen leben länger. Die Haltung der Menschen gegenüber HIV hat sich von Schweigen und Stigma zu der Haltung verlagert, dass Betroffene eben ihre Medikamente nehmen müssen – was das Verhalten auch komplizierter macht, denn das vermittelt ein falsches Sicherheitsgefühl. Wenn jemand gesund ist und gesund aussieht, dann fühlt sich mancher unbesiegbar.

 

ML: Und an welchen Buchprojekten arbeiten Sie dann gerade?

NB: Das ist noch zu früh, um darüber zu sprechen! Ich bin eine so unstrukturierte Autorin, dass das Ganze erst Wirklichkeit werden muss, bevor ich es ein Buch nenne. Als ich „Wir brauchen neue Namen“ schrieb, habe ich es nie ein Buch genannt, sondern ein Ding, weil ich immer befürchtete, es könne sich in etwas Einfacheres verwandeln. Aber ich bin an etwas Neuem dran.

 

Der Roman „Wir brauchen neue Namen“ stand im Mittelpunkt einer Ausgabe der Literarischen Kurse Wien: https://www.literarischekurse.at/fernkurs4.htm