18. März 2018
von Manfred Loimeier
1 Kommentar

Überall und nirgendwo zu Hause

Der Begriff „Afropolitan“ spielt in den Literaturwissenschaften eine nur geringfügige Rolle und wird ehestens als modisches Schlagwort begriffen. Die Selbstverständlichkeit indes, mit der der Terminus „Afropolitan“ als Markenzeichen oder zur Selbstpositionierung verwendet wird, macht eine literaturwissenschaftliche Betrachtung nicht nur naheliegend, sondern auch weiterführend. Zunächst stellt sich Anglisten allerdings die Frage, wie die Silbe „Afro“ aufzufassen ist. Taiye Selasi, die den Begriff „Afropolitan“ 2006 prägte, ist schließlich in London geboren, wuchs in Boston auf, studierte an den US-Universitäten Yale und Oxford und lebte bis zum Erfolg ihres Romans „Ghana must go“ (2013; „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“, 2013, S. Fischer) in New York, später in Rom. Einzig die Herkunft ihrer Eltern aus Ghana und Nigeria schafft einen Bezug zu Afrika.

Da Selasis Begriff „Afropolitan“ zumindest in Europa im Grunde erst durch ihren gefeierten Roman „Ghana must go“ populär wurde und beispielsweise in Deutschland erst 2013 die deutschsprachige Übersetzung ihres Aufsatzes „Bye Bye Babar“ erfolgte – als begleitende Werbemaßnahme zur Romanveröffentlichung –, erfolgt die Diskussion des „Afropolitan“-Begriffs hier im Zusammenhang des Romans „Ghana must go“.

Zur Handlung: Das Ehepaar Kwaku und Fola ist von Nigeria beziehungsweise Ghana in die USA gekommen und hat sich dort eine Mittelschicht-Existenz geschaffen. Die Kinder Kehinde und Olu, Zwillingskinder, sowie Sadie und Taiwo sind sorgenfrei aufgewachsen und wurden erfolgreiche Künstler und Ärzte – „Afropolitans“. Wegen eines angeblichen Kunstfehlers verliert Vater Kwaku, ein angesehener Chirurg, seine Stelle. Frustriert kehrt er nach Ghana zurück, wo er Jahre später stirbt. Zu seiner Beerdigung kommen die Kinder aus den USA nach Afrika – zunächst zu ihrem Onkel nach Nigeria, dann nach Ghana. Ihre Reise wird zu einer Entdeckung der Vergangenheit ihrer Eltern, zu einer Wiederbegegnung der Geschwister, die durch den Todesfall ihre Beziehungen untereinander neu klären. Afrika bildet dabei nur die Kulisse.

Taiye Selasi im Interview mit Manfred Loimeier, April 2013:
„Der Satz ,Ghana must go‘ stammt nicht von mir. 1983 warf die nigerianische Regierung rund zwei Millionen Ghanaer raus und ließ ihnen 24 Stunden Zeit, das Land zu verlassen. Als die Ghanaer gingen, riefen die Nigerianer Parolen wie ,Ghana go home‘ und ,Ghana must go‘. Und die weiß-roten-blauen Taschen, die die Ghanaer dabei hatten, wurden bekannt als die Ghana-must-go-Taschen. Ich habe diesen Satz also von einer Plastiktasche übernommen – ohne die Geschichte dahinter zu kennen. Als ich beschloss, dass dies der Titel meines Romans sein sollte, fragte mich meine Mutter, ob der Titel nicht provozieren würde. Ich sagte: Ganz und gar nicht, es ist doch nur der Name einer Tasche. Da sagte sie Nein und erzählte mir von den Ereignissen. Jetzt denke ich erst recht, dass der Titel perfekt ist, weil ich nun mehr über seine Ursprünge weiß.“

Stilistisch ist „Ghana must go“ von Standards der US-Literatur geprägt und steht auch thematisch in der Tradition afroamerikanischer Literatur, so dass das Buch – im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung – auch im Zusammenhang der Biografie seiner Autorin nicht als Teil der ghanaischen oder nigerianischen Literatur gesehen wird, sondern der US-Literatur.

Der Ausgangspunkt der Reise nach Afrika ist Ignoranz. Noch nie haben die vier Kinder nach ihrer Herkunft gefragt, haben sich bisher ausschließlich als US-Amerikaner gesehen. Ohne den Tod des Vaters wären sie nicht nach Afrika gereist. Wie US-Touristen kommen sie nach Afrika und erleben sich erst dort als Nachkommen afrikanischer Eltern. Der Ersteindruck nach der Ankunft auf dem Flughafen Lagos ist stereotyp ernüchternd: „Lagos hinter dem Fenster war nicht so, wie Kehinde es sich vorgestellt hatte, nicht üppig, nicht wie die Tropen, knallig gelb und grün. Lagos war grau, städtisch-grau, die Luft versmogt und der Himmel bedeckt und durch hohe Gebäude verbaut, ein schmutziges Hongkong. (…) Als sie über die Brücke fuhren und die Insel Ikeja verließen, um aufs Festland zu gelangen, sah Kehinde ein riesiges Schild: THIS IS LAGOS. Nicht Willkommen in Lagos, nicht Lagos heißt Sie willkommen, sondern einfach nur THIS IS LAGOS“. („Diese Dinge geschehen nicht einfach so“, S. 210-211).

Allein die Erwartung des „Welcome“ könnte als typisch US-amerikanisch bezeichnet werden, werden US-Amerikaner bei ihrer Rückkehr in die USA doch mit „Welcome home“ begrüßt. Bemerkenswerterweise thematisiert auch der US-Autor Teju Cole in seinem literarischen Essay „Every Day ist for the Thief“ (2007; „Jeder Tag gehört dem Dieb“, 2015) derart die Ankunft in Lagos und die Wirkung von Afrika-Klischees: „Ich stehe auf der Veranda und trinke meinen Tee. Von hier aus betrachtet hat die Schlucht etwas Ursprüngliches und wird einer gewissen Vorstellung von Afrika immer noch gerecht: keine Benzindämpfe, keine glitzernden Wolkenkratzer, keine sechsspurigen Autobahnen. Afrika als undurchdringlicher Busch.“ („Jeder Tag gehört dem Dieb“, S. 27-28). So unterschiedlich diese beiden Bücher von Selasi und Cole sind, haftet ihnen dennoch gemeinsam die Haltung des Sprechens über Afrika an, zunächst ohne weitere Differenzierung in verschiedene afrikanische Länder. Es ist kein Erzählen von Afrika oder aus Afrika, sondern ein bisweilen fast ethnologisch oder sozialwissenschaftlich analysierender Blick von außen auf Afrika.

Diese Haltung, als Afroamerikaner nach Afrika zu reisen und besitznehmend einen Kontinent der Ursprünglichkeit zu erwarten und dennoch gleichsam als Heimkehrer begrüßt werden zu wollen, steht in einer langen Tradition, die bis auf die Freilassung US-amerikanischer sowie englischer Sklaven und auf die Gründung der Staaten Liberia und Sierra Leone zurückgeht. Zur Erinnerung: Der Staat Liberia entstand infolge der Ansiedlung freigelassener afroamerikanischer Sklaven aus den USA durch die American Colonization Society ab 1821. Seine Hauptstadt Monrovia ist nach dem damaligen US-Präsidenten James Monroe benannt, zugleich Vorsitzender der American Colonization Society. Mit der „Rückführung von Afrikanern“ – die Sklaven waren teils erst in mehrfacher Generation Nachfahren afrikanischer Sklaven – entstand zugleich ein Überlegenheitsdünkel, denn seit der Unabhängigkeitserklärung 1847 „übte die Gruppe der Ameriko-Liberianer exklusiv die Herrschaft über Wirtschaft, Politik, Land und Leute aus, bevor durch einen blutigen Putsch (1980) unter Hauptmann Samuel Doe erstmals Angehörige solcher Ethnien die Macht eroberten, die schon vor den Ameriko-Liberianern im Lande gelebt hatten“, wie der Historiker Jacob E. Mabe in „Das Afrika Lexikon“ (2001, S. 347) schreibt. Sierra Leone wiederum entstand aus einer Ansiedlung freigelassener britischer Sklaven überwiegend in Freetown, was bereits im 18. Jahrhundert zur Ernennung Freetowns als Hauptstadt des sich herausbildenden Staates Sierra Leone führte. Die Konflikte zwischen ansässigen Afrikanern und eingewanderten freigelassenen Sklaven thematisiert der 1945 in Freetown geborene und in den USA lebende Schriftsteller Syl Cheney-Coker in seinem Roman „The Last Harmattan of Alusine Dunbar“ (1990; „Der Nubier“, 1996). Kurzum: Die Selbstverständlichkeit, mit der „heimkehrende“ Nachfahren von Afrikanern Zugehörigkeit zu Afrika beanspruchen, trifft nicht notwendig auf Willkommen vor Ort.

Tatsächlich ist aber in die afroamerikanische Identität das Selbstverständnis eingegraben, neben den USA mit Afrika eine zweite, eine Ur-Heimat zu haben. Der 1868 geborene US-Autor W.E.B. Du Bois, der von 1892 bis 1894 in Heidelberg und Berlin studierte und 1909 Mitbegründer der National Association for the Advancement of Colored People in den USA war, prägte den Begriff des doppelten Bewusstseins, als er 1903 in seinem Essayband „The Souls of Black Folks“ („Die Seelen der Schwarzen“, 2003) schrieb, dass in der Seele schwarzer Amerikaner zwei widerstreitende Seelen wohnen, die des Amerikaners, die des Afrikaners.

Dieser Traum von einer Heimkehr nach Afrika der nach Amerika – im kontinentalen Sinn – verschleppten Afrikaner war bekanntlich so stark, dass der 1887 in Jamaika geborene Publizist und Panafrikanist Marcus Garvey 1914 die Universal Negro Improvement Association gründete mit dem Ziel, möglichst alle in Amerika lebenden Nachkommen von Afrikanern zur  Auswanderung nach Afrika zu bewegen. Zu diesem Zweck gründete Garvey die Schifffahrtsgesellschaft Black Star Line, die allerdings 1923 in Konkurs ging. Im selben Jahr verweigerte ihm die Regierung Liberias, eine eigene Siedlung zu gründen. Zugleich wurde Garvey damals die Prophezeiung zugeschrieben, dass ein afrikanischer König die Befreiung der Schwarzen bringen werde, was Garvey zum Katalysator der Rastafari-Bewegung machte.

All das bildet den Subtext in der literarischen Thematisierung der Rückkehr von Afroamerikanern nach Afrika und erklärt die Verklärung des Kontinents und den unermüdlichen Anspruch von Afroamerikanern auf Zugehörigkeit zu Afrika. Dass die Realität anders aussieht, wurde bereits in zahlreichen afrikanischen Romanklassikern thematisiert – darunter im weitesten Sinne auch in „No Longer at Ease“ (1960; „Heimkehr in fremdes Land“, 2002) des Nigerianers Chinua Achebe oder in „L’aventure ambiguë“ (1961; „Der Zwiespalt des Samba Diallo“, 1980) des Senegalesen Cheikh Hamidou Kane. Intertextuelle Querverweise oder Anspielungen sowohl auf diese Identitäts- als auch auf diese Literaturgeschichte fehlen in Selasis Roman – was nicht zwangsläufig als Defizit oder Unkenntnis gewertet werden muss, in jedem Fall aber anzeigt, dass die thematische Gestaltung der Rückkehr nach Afrika in Selasis Roman entweder hinter dem Standard zurückbleibt oder gar nicht in diesem Kontext angesiedelt werden sollte. Beides spricht dafür, „Ghana must go“ als US-Familienroman zu betrachten, für den Afrika nur Kulisse und nicht Essenz ist.

Was die Repräsentativität zumindest von Selasis Roman für Afrika als Ganzes weiter einschränkt, benennt indirekt der aus der Republik Kongo stammende, in Frankreich ausgebildete und inzwischen in den USA lehrende Autor Alain Mabanckou. Wie der bereits zitierte Cole macht sich Mabanckou – obwohl erfolgreich, jung und mit Migrationshintergrund – nicht das Etikett Afropolitan zu eigen, sondern unterstreicht vielmehr die Verschiedenartigkeit der Black Community in den USA von dem Alltag von Afrikanern in Frankreich. In seinem Essay „Lettre à Jimmy“ (2007), gewidmet dem US-Autor und Du-Bois-Schüler James Baldwin, arbeitet Mabanckou Unterschiede im Selbstverständnis des Black Movement in den USA sowie der afrikanischen Diaspora in Frankreich heraus, indem er betont, die US-amerikanischen Afrikaner hätten real die Abstammung von importierten Sklaven und als Illusion die Rückkehrmöglichkeit in die „afrikanische Heimat“ gemeinsam, wohingegen in Frankreich lebende Afrikaner diese Gemeinsamkeit der Verschleppung nicht hätten und zum anderen aus unterschiedlichsten Motiven nach Frankreich gekommen waren – Studium, Ausbildung, Ehe, Arbeit –, um zudem zu bleiben. So habe sich unter den Afrikanern in Frankreich niemals ein vergleichbares „Community“-Gefühl gebildet. Überdies sei die Integration in französische Gesellschaft und Kultur als Ziel jedes Einwanderers vollkommen verschieden von der Distanz der afrikanischstämmigen US-Amerikaner zur US-Mehrheitsgesellschaft.

Bestenfalls ist Selasis Position also für die Diaspora der Afroamerikaner gültig, keineswegs aber für Afrikaner, schon gar nicht für nicht-englischsprachige Afrikaner. So, wie Selasi im April 2014 in ihrem Vortrag „Afrikanische Literatur gibt es nicht“ im Schweizerischen Institut für Auslandforschung der Universität Zürich betonte, dass zwischen den Literaturen Nigerias, Kenias, Kameruns differenziert werden müsse – übrigens kein neuer Ansatz –, ist auch ihr Begriff Afropolitan zu vereinheitlichend. Sogar im englischsprachigen Afrika scheint sich Selasis Resonanz auf die Republik Südafrika zu beschränken, wo enge kulturelle Bezüge zur Harlem Renaissance in New York (Black Consciousness Movement, Spoken Wort Poetry), politische Bezüge des Anti-Apartheid-Kampfs und eine ideologische Orientierung am „American Way of Life“ dazu führten, dass Südafrika in der Presse als Möchtegern-Bundesstaat der USA tituliert wird.

Eine weitere Einschränkung erfährt der Terminus Afropolitan dadurch, dass er vorwiegend als Bezeichnung für eine soziale Schicht innerhalb einer Generationskohorte wirkt, da Selasi in ihrem Essay „Bye Bye Babar“ schreibt: „Diese neue demographische Gruppe – verstreut über Brixton, Bethesda, Boston, Berlin – ist im 21. Jahrhundert erwachsen geworden und definiert ganz neu, was afrikanisch sein bedeutet. Wo unsere Eltern als Ärzte, Anwälte, Bankangestellte oder Ingenieure die Sicherheit traditioneller Berufe suchten, wagen wir uns in Felder wie Medien, Politik, Musik, Risikokapital oder Design vor. Wir haben auch keine Hemmungen, in unserer Arbeit unsere afrikanischen Einflüsse zu zeigen (soweit es sie gibt).“

Loimeier: „Was ist dann der Unterschied zwischen Afropolitan und Transkulturalität?“
Selasi: „Ach, keiner. Also ich meine, es ist nicht notwendig einer. Als ich diesen Essay schrieb, beschrieb ich eine Erfahrung, die mehr als ein Trans- war, denn transkulturell sagt gar nichts. Es legt nur nahe, dass Sie gerade im Flugzeug sitzen, aber nicht, wer Sie sind, wenn Sie aus dem Flugzeug aussteigen – sei es in Accra, New York oder London, wo Sie nicht recht dazupassen. So suchte ich nach einem Weg, darüber nachzudenken, wer wir werden.“

Darüber hinaus steckt in dem „Bye Bye Babar“-Postulat, „,Sind wir nicht die verdammt coolsten Menschen der Welt?‘ (…) Es ist höchste Zeit, dass die Afrikaner selbstbewusst aufstehen“ eine Pose, die auf eine andere historische und bereits kontrovers diskutierte Epoche zurückführt; die Négritude. Diese Kulturbewegung entstand in den 1940er Jahren im frankophonen Sprachraum mit dem Ziel – gegründet unter anderem von dem senegalesischen Dichter Léopold Sédar Senghor und den Schriftstellern Aimé Césaire aus Martinique und Léon-Gontran Damas aus Guyana –, das Bewusstsein der Afrikaner von ihrer Herkunft und Kultur zu stärken und den Europäern gleichsam zu beweisen, dass auch Afrikaner Werke der Hochkultur schaffen können. Césaire war es auch, der mit seinem Buch „Le cahier d’un retour au pays natal“ (1939; „Zurück ins Land der Geburt“, 1967) das Genre der Heimkehrliteratur nach Afrika schuf, zu dem die beiden US-Autoren Richard Wright mit dem Roman „Native Son“ (1940; „Sohn dieses Landes“, 1941) und James Baldwin mit dem Essayband „Notes of a Native Son“ (1955; „Schwarz und Weiß oder Was es heißt, ein Amerikaner zu sein“, 1963) beitrugen. Auch Mabanckous Roman „Lumières de Pointe-Noire“ (Die Lichter von Pointe-Noire) von 2013 über eine Reise nach Kongo-Brazzaville nach Jahrzehnten der Abwesenheit ist in dieser Reihe zu sehen. Statt dieser Traditionskette hallt Senghors berühmte, klischeehafte und vielfach bestrittene These „Emotion ist afrikanisch, Vernunft hellenisch (europäisch)“ in Selasis „Bye Bye Babar“ nach, wenn sie schreibt: „Nigerianisch zu ,sein‘ heißt, einer leidenschaftlichen Nation anzugehören; Yoruba zu sein heißt, das Erbe einer spirituellen Tiefe zu tragen; (…) britisch zu sein heißt, schnell die Zollkontrolle passieren zu können“. Bereits der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka kritisierte an der Négritude-Bewegung den Wunsch, afrikanisches Selbstbewusstsein zur Schau stellen zu wollen, weil dadurch die westliche Welt in ihrer Dominanz als Orientierungspunkt, dem ein Gegenbeweis geliefert werden soll, bestätigt werde. Ein Tiger, der springen will, konterte Soyinka, blickt auch nicht um sich, ob ihm alle zuschauen, sondern er springt einfach.

Derlei Geschichtsvergessenheit spricht aber nicht nur aus Selasis Roman „Ghana must go“ und ihrem Essay „Bye Bye Babar“, sondern auch aus dem Werk der nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie, die von Selasi in ihrem Essay als Afropolitan reklamiert wird. Abgesehen von der zutreffenden Brisanz von Adichies Rede „The Danger of a Single Story“ (2009) ist zu betonen, dass bereits Achebe seit den 1960er Jahren in seinen Essays vor einer einseitigen Darstellung der Geschichte warnte nach dem Motto: Solange nicht der Löwe seine Geschichte erzählen kann, hat immer der Jäger recht. Besonders schwerwiegend scheint, dass diese Haltung über Jahrzehnte wiederholt werden muss – so auch durch Adichie –, um endlich Gehör zu finden.

Obwohl sowohl Selasis Roman „Ghana must go“ als auch ihr Essay „Bye Bye Babar“ von einer erfrischenden Unbelesenheit zeugen – sei es unbeabsichtigt oder mit Absicht –, deuten beide Werke auf ein Defizitgefühl innerhalb der US-Diaspora hin. Gerade der Blick auch auf Tejo Coles Roman „Open City“ (2011; „Open City“, 2012), auf Adichies Roman „Americanah“ (2013; „Americanah“, 2014) sowie auf die beiden Romane „A Bit of Difference“ (2013; „Nur ein Teil von dir“, 2013) der in den USA lebenden nigerianischen Autorin Sefi Atta und „We Need New Names“ (2013; „Wir brauchen neue Namen“, 2014) der ebenfalls in den USA lebenden simbabwischen Autorin NoViolet Bulawayo zeigt ein Unbehagen von Afroamerikanern und Afrikanern in der gegenwärtigen US-Gesellschaft, so dass einerseits, wie bei Cole und Selasi, eine Suche nach den afrikanischen Wurzeln erfolgt, oder aber, wie bei Adichie, Atta und Bulawayo, eine Absage an den US-amerikanischen Traum samt Heimkehr nach Afrika. Insofern spricht auch aus dem Begriff Afropolitan weniger eine Zugehörigkeit zu Afrika, sondern die Unzugehörigkeit, weder zu einer Herkunfts- noch zu einer Zielkultur zu gehören.